Hinterm Horizont gehts weiter

Ukraine-Debatte: Ein Blick über den deutschen Gewerkschaftshorizont hinaus täte gut

von Bernd Gehrke, 27. April 2024

Der Artikel von Renate Hürtgen „Wo steht die gewerkschaftliche Linke nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine?“ in express 2/2024 hat wenig überraschend Kritik hervorgerufen. Allerdings hat nur Gregor Kritidis zur Kenntnis genommen, dass Renate Hürtgen auf die neue globale Konstellation der Existenz mehrerer imperialistischer Mächte verwiesen hat, um Probleme zu diskutieren, die ernsthaft diskutiert werden sollten, wenn das Recht zur Selbstverteidigung der Ukraine akzeptiert wird und die Grundlage der Debatte bildet. Die anderen beiden Kritiken holten die große Keule des Überlaufens zum Feind heraus. Während Udo Seidel seine Kritik immerhin noch in Fragen kleiden konnte, die zum Teil auch notwendig zu diskutierende Probleme enthielten, haute Andreas Buderus auf die ganz große Pauke und warf der Autorin sowie der Redaktion vor, nunmehr die Fanfaren der Kriegspartei zu blasen. Viel wäre an diesen Kritiken zu kritisieren. Doch anstatt zur Gegenattacke zu blasen, möchte ich an dieser Stelle den Leser:innen des express einen anderen Blickwinkel anbieten: den über den deutschen Gartenzaun.

Bemerkenswerterweise wird in keiner der drei Reaktionen darauf eingegangen, dass die Autorin fragt, ob nicht die Resolution des britischen TUC zum Ukraine-Krieg Grundlage für internationalistische Antworten der Gewerkschaften auf mögliche künftige imperialistische Kriege sein könnte. Während sich Gregor Kritidis auf die von Hürtgen aufgeworfene Problematik einlässt, dass es mehrere imperialistische Akteure auf der Welt von heute gibt, so fällt bei den beiden anderen Beiträgen auf, dass sie ausschließlich den westlichen Imperialismus im Fokus haben. Deshalb sei das Ansinnen Hürtgens noch einmal wiederholt. In der Entschließung des TUC zum Krieg in der Ukraine heißt es schon im ersten Abschnitt: „Als Gewerkschafter sind wir von Natur aus antiimperialistisch, und es ist unsere Aufgabe, Imperialismus und Tyrannei bei jeder Gelegenheit zu bekämpfen. Wir erkennen, dass ein Sieg Putins in der Ukraine ein Erfolg für die reaktionäre autoritäre Politik in der ganzen Welt sein wird.“1

Wie diese Entschließung zeigt, sind es nicht lediglich „rotgelbolivgrün behelmte Kriegstreiber:innen“ (Buderus), die sich voll und ganz auf die Seite der überfallenen Ukraine stellen. Auch wenn es ehrenwerte kleine Basisgewerkschaften in Europa gibt, die in den Häfen stets und immer Waffenlieferungen gleich welcher Art boykottieren, und dies auch jetzt im Ukraine-Krieg tun, so sind es doch marginale Aktionen innerhalb der europäischen Gewerkschaftsbewegung, auf die sich z.B. der Aufruf „Sagt Nein!“ in großspuriger und realitätsverzerrender Weise bezieht, wenn es heißt: „Unsere Zukunft ist an der Seite der Arbeiterinnen und Arbeiter, die in Italien und Griechenland gegen Waffenlieferungen kämpfen […]“, um anschließend aus dieser Übertreibung ein Amalgam zu produzieren, in dem auch die gewerkschaftlichen Unterstützer.innen des ukrainischen Widerstands enthalten sind, wenn es ohne Abgrenzung vom eben erwähnten Teil heißt: „[…] und an der Seite der Kolleg:innen in Frankreich, Großbritannien und weltweit, die immer wieder gegen den Krieg und die Abwälzung der Krisen- und Kriegskosten auf uns alle streiken.“

Solche Formulierungstricks sollen anscheinend die Wahrheit kaschieren, dass das Gros der europäischen Gewerkschaftsbewegung hinter dem Widerstand der Ukraine steht und nicht hinter den Ansichten der Kampagne „Sagt Nein!“ Deshalb ist hier, wie auch in anderen Texten, die gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, für „revolutionären Defätismus“ oder für eine neutrale Haltung gegenüber beiden Kriegsparteien eintreten, auffällig, dass nie von den ansonsten angehimmelten und wegen ihrer kämpferischen Aktionen romantisierten Gewerkschaften Frankreichs die Rede ist. Dass das so ist, zeigt den bei vielen, vermeintlich internationalistisch aufgestellten Gewerkschaftslinken vorhandenen deutsch-bornierten Blick. Oder, schlimmer noch, ihr absichtsvolles Wegschauen. Das ist auch kein Wunder, denn die Welten der französischen Gewerkschaften und jener der deutschen oppositionellen gewerkschaftlichen „Friedensbewegung“ könnten nicht weiter auseinander liegen, so wie die oben zitierte britische.

Schon am 24. Februar 2022, dem Tag der beginnenden Vollinvasion Russlands in die Ukraine, gab es eine übergewerkschaftliche Erklärung aller großen französischen Gewerkschaften, in der sowohl die auf Kuschelkurs zur Regierung befindlichen als auch die kämpferischen Gewerkschaften wie CGT und Solidaires vertreten waren. Bereits einen Tag nach der russischen Invasion erklärten mehrere Gewerkschaftsbünde von CFDT bis CGT ihre Solidarität mit der Ukraine und forderten „die sofortige Beendigung dieser Aggression und den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine“2. Wenige Tage später gab es eine zusätzliche Erklärung von CGT, FSU und Solidaires. Darin sagten sie: „Nein zum Krieg! Sofortiger Rückzug der russischen Truppen. Solidarität mit dem ukrainischen Volk!“3

Auch sie plädierten durchaus für diplomatische Lösungen, aber nicht ohne zuvor ihre Solidarität „mit dem ukrainischen Volk, das sich mutig gegen die Aggression wehrt“, zu bekunden, insbesondere „mit den ukrainischen Werktätigen [les travailleurs et travailleuses] und den Gewerkschaftsorganisationen“.

Das ist eben jener Geist, für den Renate Hürtgen mit ihrem Zitieren der TUC-Entschließung geworben hat. Die französischen Gewerkschaften bildeten jenseits ihrer sonstigen Differenzen einen übergewerkschaftlichen Zusammenschluss für die Ukraine-Solidarität, in dem alle Gewerkschaften, außer den anarchosyndikalistischen wie die CNT, vertreten sind. Dieser Zusammenschluss könnte als Vorbild auch für die deutschen Gewerkschaften dienen. Hier wurden die verschiedensten Solidaritätsaktionen für die ukrainischen Gewerkschaften koordiniert und organisiert. In einem Aufruf zum zweiten Jahrestag der russischen Vollinvasion am 24. Februar 2024 stellten sie ihre Solidaritätsaktionen für die ukrainischen Gewerkschaften dar und forderten schon in der Überschrift erneut: „Für einen gerechten und dauerhaften Frieden: Solidarität mit dem Widerstand der ukrainischen Werktätigen [les travailleurs et travailleuses]!“4* Nach der Darstellung von Grundpositionen und eigenen Solidaritätsaktionen stellten sie u.a. Folgendes fest:

Die Unterstützung der französischen Gewerkschaften endet nicht mit der Organisation humanitärer Hilfe. Die französischen Gewerkschaftsorganisationen solidarisieren sich mit den ukrainischen Gewerkschaftsbünden FPU und KVPU, die sich gegen die Verabschiedung eines ultraliberalen Arbeitsgesetzes wehren, das den europäischen und internationalen Verpflichtungen des Landes im Bereich der sozialen Rechte und der gewerkschaftlichen Freiheiten zuwiderläuft. Die Intersyndikale für Solidarität mit der Ukraine trägt seit zwei Jahren mit Nachdruck folgende Forderungen vor:

  • Die Anerkennung der Verantwortung von Putins Russland für den Angriffskrieg gegen die Ukraine.

  • Die Anerkennung der Legitimität des ukrainischen Volkes, sich gegen diese Aggression zu verteidigen.

  • Die Forderung nach einem gerechten und dauerhaften Frieden, dessen Voraussetzung der Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine sein muss.

  • Konkrete Solidarität mit den ukrainischen Werktätigen [les travailleurs et travailleuses] und ihren Gewerkschaftsorganisationen sowohl in ihrem Kampf gegen die Reformen, die die sozialen und gewerkschaftlichen Rechte in der Ukraine untergraben, als auch in ihrem Kampf gegen den russischen Imperialismus.

  • Aktive Unterstützung der Freiheitsrechte und derjenigen, die in Russland und Belarus für den Frieden und ihre Rechte kämpfen.“

So sieht internationalistische Gewerkschaftssolidarität aus. Das ist der Geist, den auch der TUC formuliert hat und der nichts, aber auch gar nichts mit dem Überlaufen zu Macron, Sunak oder Scholz zu tun hat, sondern einfach mit gewerkschaftlichem Internationalismus und mit Solidarität. Das Agieren der großen und wichtigen Gewerkschaften in Großbritannien und Frankreich macht aber auch deutlich, dass der ver.di-Kongress im letzten Jahr mit seiner Ablehnung sowohl des Aufrufs „Sagt Nein!“ wie auch der Hochrüstung nicht etwa allein dasteht, sondern im Gegenteil, Teil der großen Woge internationalistischer Solidarität mit der Ukraine ist. Die permanenten und angesichts der Realentwicklung immer lächerlicher werdenden Vorwürfe, dass mit der Unterstützung der Ukraine durch die Gewerkschaften auch eine Unterstützung der je eigenen nationalen Militärpolitik einherginge, quasi eine „Burgfriedenspolitik“ betrieben werde, wird durch die tatsächliche Streikentwicklung, gerade auch von ver.di, praktisch widerlegt. Für die deutsche, oft – und gerade von den Gewerkschaftslinken – unempathische Diskussion, in der vor allem geopolitische Fragen im Zentrum stehen, sollte der folgende Text der französischen CGT zum Nachdenken anregen. Denn dieser Text war für ihre eigenen Mitglieder bestimmt und bezieht eigene ideologische Vorstellungen mit ein, die die CGT als ehemals KP-gesteuerte Gewerkschaft inzwischen hinter sich gelassen hat, die aber in der deutschen Linken innerhalb wie außerhalb der Gewerkschaften immer noch stark vorhanden sind: Der „Campismus“ – ein Begriff für ein linkes Blockdenken, das nur im eigenen, westlichen Imperialismus Probleme erkennt und alle anderen als Opfer des Westens deutet, als Opfer, die keine eigene Subjektivität haben. In dem am 7. März 2022, also nur rund zwei Wochen nach der russischen Großinvasion veröffentlichten Text mit dem Titel „Paix en Ukraine – Liberté en Russie!“, der sich mit zehn Fragen zur Selbstverständigung an die eigenen Gliederungen der CGT richtet, heißt es u.a.:

Unsere Seite ist die des Friedens. Aber um den Frieden wiederzuerlangen, muss mit Sicherheit die Freiheit endlich ihren Weg nach Russland finden.

Unser Pazifismus, der seine Wurzeln in der Zimmerwalder Konferenz von 1915 hat und durch die Ablehnung des ‚Campismus‘ aktualisiert wurde, läuft darauf hinaus, das Spiel der Allianzen abzulehnen, die die Völker zugunsten der Bourgeoisie oder der Aristokratien, die sie regieren, in weltweite Konflikte hineinziehen. Aber unser Pazifismus kennt den Unterschied zwischen der Art der Eskalationsgefahren und den Erfordernissen des Widerstands der Völker zur Verteidigung ihres Selbstbestimmungsrechts.

Von der Pariser Kommune über den Spanischen Bürgerkrieg und der Resistance** bis hin zum Vietnamkrieg ist unsere Geschichte auch die Geschichte der Unterstützung von Völkern, die im Kampf um die Verteidigung ihrer Rechte und Freiheiten gegen Unterdrückung oder Aggression stehen.“5

Die hier formulierten Grundsätze des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses sind es ebenso wert, in der deutschen, namentlich der pazifistischen Gewerkschaftlinken diskutiert zu werden, wie die des TUC in Großbritannien. Deutlich wird aber, dass in beiden Fällen die Texte einen erheblich anderen als den in Deutschland vorhandenen Diskurs über den Krieg Russlands gegen die Ukraine zum Ausdruck bringen, denn in beiden Texten stehen Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit im Zentrum gewerkschaftlicher Diskussion, nicht die distanzierte Geopolitik. Es ist höchste Zeit, über den Zaun zu den Nachbarn zu schauen und auch in Deutschland eine wieder auf Solidarität gegründete, statt von Schachbrettern globaler Machtspiele geprägte Diskussion zu erhalten. Denn diese Diskussion wird weitergehen, weil nach der Ukraine die nächsten Kriege kommen werden, in denen wir Partei ergreifen werden müssen. Da wäre es schon mal gut, wenn wir uns über die Grundlagen gewerkschaftlicher Solidarität verständigt hätten. Aber das hatte ja schon Renate Hürtgen in ihrem Artikel gefordert.

****

* In der im express 4/2024 veröffentlichten Fassung dieses Artikels heißt es fälschlich „Arbeiterinnen und Arbeiter“.

** In der Papierfassung des express hatte ich den französischen Begriff „Resistance“ nur formal korrekt, aber doch Sinn entstellend mit „Widerstand“ übersetzt. Gemeint ist jedoch die französische Widerstandsbewegung gegen die Nazi-Okkupation, die „Resistance“.

Anmerkungen

3 cgt-FSU-Solidaires Déclaration intersyndicale Non à la guerre: retrait immédiat des troupes russes, solidarité avec le peuple ukrainien; https://www.cgt.fr/sites/default/files/2022-03/D%C3%A9claration%20intersyndicale%20CGT%20FSU%20Solidaires_non_a_la_guerre_en_Ukraine_03_03_22.pdf

4 Pour une paix juste et durable: Solidarité avec la résistance des travailleuses et travailleurs ukrainiens!; https://www.cgtetat.fr/societe-959/europe-international/europe/article/pour-une-paix-juste-et-durable-solidarite-avec-la-resistance-des-travailleuses

Quelle: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 04/2024, 62. Jahrgang, S. 11.

Fotos: Plakate der abgedruckten Gewerkschaften – UkraineSolidarityCampaigne_FP0Xem6X0AMNwpI.jpg; Plakat franz Gewerk_Soli-UA_aplutsoc-org_flyer-10-decembre.jpg; Soli-Plakat_UA_Cgt-FSU-Solidaires_Capture d’écran 2022-03-07 à 16.13.22.png.