Das Putin-Regime will die blutigen Schandflecken der Sowjetunion wieder unkenntlich machen

von Bernd Gehrke, 23. Februar 2022

Informationsveranstaltung von Memorial Moskau im September 2018 für deutsche Gewerkschafter:innen. Im Hintergrund: Werbeplakat für die Ausstellung über die berühmte Brecht- und Dreigroschenoper-Schauspielerin Carola Neher, die als antifaschistische Emigrantin vom stalinistischen Terrorregime ermordet wurde.

Am 28. Dezember 2021 verbot in Moskau das Oberste Gericht mit fadenscheinigen Begründungen eine der ältesten Menschenrechtsorganisationen Russlands. Von namhaften Historiker:innen und Menschenrechtsaktivist:innen wurde Memorial International 1988 während der Perestroika in der Sowjetunion gegründet. Ihr Anliegen war es, die von der KPdSU-Diktatur unterdrückten Fakten der Terrorgeschichte des Landes ans Licht der Öffentlichkeit zu holen, aufzuarbeiten und den Millionen von Opfern Gesicht und Stimme zu geben.Was macht Memorial?

Memorial hat seither umfangreiche Datenbanken aufgebaut, die die biografischen Daten von mehr als drei Millionen Opfern der stalinistischen Mordmaschinerie enthalten. Mehr als 60.000 persönliche Aufzeichnungen von Opfern wurden archiviert, ebenso Materialien der sowjetischen Dissident:innen-Bewegung seit den 1960er Jahren. Zu den Beständen des Archivs gehören auch Unterlagen deutscher Antifaschist:innen, die im sowjetischen Exil ermordet, zu Sklavenarbeit im GULag verurteilt oder sonstwie Opfer der Repression wurden. Allein die Bibliothek von Memorial enthält mehr als 40.000 Bände. Das von Memorial aufgebaute Museum hatte in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Ausstellungen zu verschiedenen Themen von Repression und Opposition gezeigt. Orte des Repressionsregimes wurden erforscht und Gedenkstätten errichtet.
Mit dem Verbot der Tätigkeit von Memorial steht all dies zur Disposition. Es sei denn, Memorial könnte es unterlaufen. Und eben das ist die m.E. noch offene Frage für die Zukunft der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen in Russland. Welche Möglichkeiten des Unterlaufens des Verbots es gibt, wird wohl erst noch erprobt werden müssen.

 Anschlag auf die Zivilgesellschaft

Das Verbot von Memorial ist nicht nur irgendeine weitere Repression der russischen Staatsmacht gegen Oppositionelle und zivilgesellschaftliche Akteure. Aufgrund des erinnerungspolitischen Charakters von Memorial International sowie ihrer Menschenrechts-Ausgründung als auch wegen ihres großen Renommees im In- und Ausland zielt dieses Verbot jetzt auf den Kern von Zivilgesellschaft überhaupt. Es ist ein Schlag gegen jegliche Art staatsunabhängiger und autonomer Selbstorganisation von Gesellschaft. Denn nunmehr wird selbst eine staatsunabhängige Produktion von Gesellschafts- und Geschichtserzählung unterdrückt.
Ich habe aber große Zweifel, dass es dem Regime gelingt, Zivilgesellschaft und oppositionelle Aktivitäten »nachhaltig« zu zerschlagen, denn immer wieder hat die Zivilgesellschaft Russlands in den letzten zwanzig Jahren bewiesen, dass sie trotz brutaler Repression Lösungen für ihr Überleben findet und erneuerungsfähig ist. Zudem erzeugt das Regime mit seinen tiefen Widersprüchen selbst immer wieder neue Proteste.

Stalin-Aufarbeitung schon länger unter Druck

Als ich im September 2018 mit einer Gruppe des DGB Bildungswerks Bund und Mitgliedern der Humanistischen Union in Moskau Memorial besuchte, wo wir uns über die schon damals von Deutschland aus bedrohlich erscheinende Situation der Organisation informierten, sah es vor Ort tatsächlich gar nicht gut aus. Gespräche mit Historiker:innen und Aktivist:innen ermöglichten einen plastischen Eindruck von der Bedrohung durch Gerichte und Behörden.
Allgegenwärtig war schon die Verbotsdrohung, die durch die Klassifizierung von Memorial als »ausländischer Agent« durch die Staatsmacht vorgenommen worden war, weil Memorial Spenden aus dem Ausland erhält. Während diese Bedrohung auf den Widerspruch aus der russischen Intelligenzia stieß und durch den internationalen Bekanntheitsgrad von Memorial auch international wahrgenommen wurde, sah es mit der praktischen Behinderung der
Memorial-Gruppen an vielen Orten des Landes völlig anders aus. Deren Aktivitäten stießen – international wenig beachtet – allenthalben auf Behinderungen von Behörden. Oft waren diese angestachelt vom Protest einer Einheitsfront großrussischer »Patrioten«, die von Putins Partei »Einiges Russland« über regimetragende Kommunist:innen der KPRF bis zu den Ultra-Nationalist:innen der LDPR reichte. Die »Ehre Russlands« bei den einen oder die der »Sowjetunion« bei den anderen unterscheidet sich letztlich nur in ideologischen Nuancen. Das saubere Bild eines großrussischen Staats ist das gemeinsame praktisch-politische Ziel all dieser Vaterlandsvereine.

Zaren, Stalin, Putin

Seit 2012 und besonders seit dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution 2017 ist es dem Regime gelungen, eine Geschichtsideologie zu schaffen, in deren Zentrum die Erzählung vom positiven Wesen eines großrussisch-autoritären Staats steht. In ihr wird eine Entwicklung von den Zaren über Stalin bis zu Putin konstruiert. Lenin ist aus der Erinnerung getilgt und die Zeiten der Großen Russländischen Revolution gelten als Zeiten von Wirren, die den Aufstieg des stalinistischen Staates in der Nachfolge des Zarenreiches ermöglichten. So lassen sich im Volk tradierte Symbole und Kulte des Sowjetstaates als jene des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg mit den Symbolen des Zarismus zu einer Melange von der Größe Russlands verrühren. Mit Rücksicht auf den Konservatismus der Massen dürfen dank Putin sogar die Statuen des »Popenmörders« Lenin einstweilen stehen bleiben.
Anknüpfend an Ideen vom Russländischen Eurasien und andere erzreaktionäre Strömungen ist diese Ideologie »antiwestlich-antiliberal« und ethisch konservativ. Eben »Russland, aber normal«, um einen Wahlslogan der AfD zu modifizieren.

Erinnerungspraxis an Stalin-Opfer à la Putin

Da trübt die Konfrontation mit der mörderischen Vergangenheit durch die Schaffung von Gedenkstätten für die im Stalinismus Ermordeten oder für die Staatssklaverei im GULag natürlich das Bild eines »großartigen Russlands«.
Das Schicksal der von Memorial-Aktivist:innen in den 1990er Jahren geschaffenen »Gedenkstätte der Geschichte politischer Repression ›Perm 36‹«, die von einer Memorial-nahen NGO geleitet worden war, nahm vorweg, worum es dem reaktionären Regime mit dem Verbot von Memorial jetzt geht. Die Gedenkstätte, die an das Schicksal der Opfer und das drakonische Haft- und Arbeitsregime erinnerte, wurde im Frühjahr 2014 durch die Staatsmacht geschlossen. Unter einer neuen, von den Behörden eingesetzten Leitung wurde das Museum noch im gleichen Jahr mit einer neuen Ausstellung wiedereröffnet. In der regimekonformen Nachfolge-Einrichtung gaben nunmehr ehemalige Lager-Aufseher:innen und die neue Ausstellung Zeugnis vom »aufopferungsvollen Alltag« des Lager-Personals bei der Umerziehung von »Kriminellen und Staatsfeinden« durch Arbeit zum Aufbau des Landes.
Nunmehr wurden nicht mehr die Zeugnisse des Überlebenskampfes der Opfer, sondern jene der Menschenschinder durch Uniformen, Ehrenzeichen und Fotos gewürdigt. So passt nun selbst ein sowjetisches Zwangsarbeitslager in eine »ehrenvolle Geschichte des großen Russlands«.
Solche radikale Umdeutung von Geschichte ist atemberaubend. Immerhin bestand das Straflagersystem des GULag zwar aus verschiedenen Lagertypen, aber in den Hochzeiten des Stalinschen Terrors war es wesentlich ein Zwangsarbeitssystem, in dem Vernichtung durch Arbeit praktiziert wurde. Hunderttausende Menschen starben dabei.
So verschieden die historischen Kontexte zwischen den Konzentrations- oder Zwangsarbeitslager-Systemen in Geschichte und Gegenwart auch sein mögen, für eine emanzipatorische Linke ist und bleibt es eine wichtige internationalistische Aufgabe, gegen jede Form von Erinnerungspolitik zu kämpfen, die statt der Perspektive der Opfer jene der Täter:innen der verschiedenen Terrorregimes zum Ausdruck bringt oder die Opfer verschweigt.
Das betrifft nicht nur die Ausbeutungsregime des europäischen Kolonialismus im globalen Süden oder die nationalsozialistischen Konzentrationslager, sondern eben auch den sowjetischen GULag. Denn der Blick zurück ist leider auch ein Blick nach vorn, auf die heute existierenden Zwangsarbeitsregime in der Welt. Für alle Menschen, die noch wie auch immer an einer sozialistischen Perspektive festhalten, ist antistalinistische Erinnerungs- und Geschichtspolitik unverzichtbar. Daher trifft das Verbot von Memorial besonders schwer.
Deshalb gilt: Solidarität mit Memorial und »Rossija bjes Putina!«/»Russland ohne Putin!«

Links:

Memorial Deutschland

Quelle: express 2-3/2022

Fotos: Redaktion