von Bernd Gehrke, 20. März 2024

Als Russland vor zwei Jahren seine großflächige Invasion in der Ukraine begann, erfasste eine Woge der Empathie mit den ukrainischen Flüchtlingen auch das Gros der deutschen Gewerkschaften. Nicht nur verurteilten DGB und Einzelgewerkschaften vielfach

den russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine, auch viele Gewerkschaftshäuser wurden für die Flüchtlinge geöffnet, eine gewerkschaftliche Spendenkampagne in Gang gesetzt und damit humanitäre und gewerkschaftliche Solidaritätsaktionen unterstützt. Doch angesichts der Vervielfachung und Verstetigung von Krisen des Gegenwartskapitalismus, zunehmender sozialer Probleme der arbeitenden Klassen sowie neuer weltpolitischer Brennpunkte wie dem Nahostkrieg, droht in Deutschland und auch innerhalb der DGB-Gewerkschaften die Solidarität mit dem Existenzkampf der Ukraine und ihrer Gewerkschaften in den Hintergrund zu geraten. Stattdessen verbreitet sich auch in gewerkschaftlichen Reihen Empathielosigkeit, es droht die Preisgabe von Grundsätzen der internationalen Solidarität.

Ukrainische Gewerkschaften mit dem Rücken zur Wand

Russlands Terrorkrieg gegen die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur macht eine normale gewerkschaftliche Tätigkeit unmöglich. So wird ein großer Teil der gewerkschaftlichen Aktivitäten durch die Unterstützung von Gewerkschaftsmitgliedern, die sich an der Front befinden sowie ihrer Familien, beansprucht, denn ein Sieg Russlands würde nicht nur das Ende der ukrainischen Gewerkschaften bedeuten, sondern auch die Verfolgung und Ermordung ihrer Aktivist:innen. Darüber hinaus richten sich ihre Aktivitäten natürlich auch auf die Unterstützung jener Mitglieder und deren Familien, die von den Kriegsfolgen betroffen sind, ihre Wohnung und ihre Habe verloren haben oder die sich auf der Flucht befinden. Die Gewerkschaften in der Ukraine sind heute zu einem wesentlichen Faktor einer zivilgesellschaftlich getragenen sozialen Infrastruktur geworden.

Zugleich befinden sich die Gewerkschaften in einem Zweifrontenkampf, in dem sie sich nicht nur gegen die militärische Aggression Russlands und deren Auswirkungen wehren müssen, sondern auch gegen die neoliberalen Angriffe von Seiten des Kapitals und des Staates. Insbesondere das schon vor dem 24. Februar 2022 im parlamentarischen Raum diskutierte neoliberal zugeschnittene Arbeitsgesetz, welches nun mit der Begründung der „Kriegsbedingungen“ 2022 beschlossen wurde, enthält zahlreiche Einschränkungen der Rechte von Beschäftigten und Gewerkschaften und eine extreme Erweiterung der Rechte von Unternehmer:innen. Diese doppelte Not der Gewerkschaften in der Ukraine, die durch den russischen Überfall und seine Folgen eingetreten ist, macht die Solidarität von Seiten der internationalen Gewerkschaftsbewegung besonders dringlich, zumal uns nicht gleichgültig sein kann, welche Art von Ukraine ihren Weg nach Westen gehen wird.

Aus diesen Gründen hat der AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West am 24. Februar 2024, dem zweiten Jahrestag des russischen Großangriffs auf die Ukraine, im Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte eine Solidaritätsveranstaltung mit Gewerkschafter:innen aus der Ukraine und Deutschland organisiert. In einem Eingangsstatement der Veranstalter:innen wurde u.a. auf die Struktur der mit Deutschland nicht vergleichbaren Gewerkschaftslandschaft in der Ukraine aufmerksam gemacht. So ist der größte Gewerkschaftsbund die Föderation der (postsowjetischen ehemaligen Staats-)Gewerkschaften der Ukraine, deren Einzelgewerkschaften sich allerdings nach 30 Jahren ukrainischer Entwicklung inzwischen erheblich ausdifferenziert haben. Daneben existiert in scharfer Konkurrenz der zweitgrößte Gewerkschaftsverbund, die liberal-patriotische Konföderation freier Gewerkschaften der Ukraine. Eine aktuell wichtige Rolle spielen eine Reihe kleinerer Branchen- oder regionaler Gewerkschaften, die keinem Dachverband angehören. So etwa die Gewerkschaft der Metall- und Bergarbeiter:innen in Krivyi Rig.

Die ukrainische Kollegin Kateryna Danilova, die heute für die IG BAU in Deutschland Wanderarbeiter:innen und Flüchtlinge berät, gab eine ausführliche Darstellung mit praktischen Beispielen der gesetzlichen Einschränkungen der Rechte von abhängig Beschäftigten und Gewerkschaften durch das neue, für die Kriegszeit erlassene Arbeitsgesetz in der Ukraine. Sie zeigte, wie u.a. die Rechte der Unternehmen bei Entlassungen erweitert wurden, wie den Unternehmen die einseitige Aufhebung von Kollektivverträgen ermöglicht oder ihnen die Möglichkeit gegeben wurde, Beschäftigte zum mehrmonatigen Urlaub aufgrund fehlender Aufträge zu zwingen. Die Gewerkschaften wüssten, dass sie dafür kämpfen werden müssen, dass diese Einschränkungen nach dem Krieg wieder aufgehoben werden. Darüber hinaus führte die Schließung von Betrieben, die Binnenflucht sowie die Einziehung von Soldaten in die Armee bei den Gewerkschaften zu einem erheblichen Mitgliederverlust.

Per Video waren der Vorsitzende der Bauarbeitergewerkschaft der Ukraine, Vasyl Andreyev und sein Stellvertreter Oleg Borysov, aus Kiew zugeschaltet. Mit großer Verve machten sie klar, wie notwendig es ist, die Tausenden an der Front kämpfenden Mitglieder sowie deren Familien zu unterstützen, zum Teil mit humanitären Gütern, zum Teil aber auch mit militärischer Ausrüstung. Sie unterstrichen, wie wichtig ihnen die Solidarität der deutschen und internationalen Gewerkschaftsbewegung ist, betonten aber, dass alle diese Solidarität ihnen dann kaum nütze, wenn sie keine Waffen hätten, um sich gegen den Aggressor Russland zu verteidigen. Beide Kollegen beschrieben, wie ihnen bisherige gewerkschaftliche Rechte genommen worden seien, dass sie aber dennoch versuchten, praktische Solidarität für Kolleg:innen, etwa bei Gerichtsprozessen zu leisten. Sie baten um Spenden zur Unterstützung ihrer Soliaktionen (siehe Kasten).

Probleme des ukrainischen Arbeitsmarkts

Natalia Zemlyanska, Vorsitzende der USPP, die ebenfalls per Video aus der Ukraine zugeschaltet war, machte auf die prekäre Situation des ukrainischen Arbeitsmarktes aufmerksam, auf dem sich viele entlassene Kolleg:innen oft als Scheinselbständige durchschlagen müssen. Ihre Organisation verstünde sich vor allem als deren Gewerkschaft. Sie sprach aber auch über die großen Probleme, welche durch die kriegsbedingte Abwanderung vieler ukrainischer Fachleute ins Ausland entstanden seien. Deshalb müsse auch die Rückkehr ukrainischer Flüchtlinge ein wichtiges Thema zwischen deutschen und ukrainischen Gewerkschaften sein. Die USPP stellte sich für die Veranstalter:innen als durchaus eigentümliche Organisation heraus. Von der ILO wird die Ukrainische Union der Industriellen und Unternehmer als Unternehmerorganisation klassifiziert, sie selbst versteht sich nicht nur als Gewerkschaft von Scheinselbständigen, sondern ist als solche auch Mitglied der Föderation der Gewerkschaften der Ukraine. Alle per Video zugeschalteten Kolleg:innen betonten, wie wichtig ihnen die gemeinsame Diskussion mit den deutschen und anderen europäischen Gewerkschaften ist. Die Kollegen der Baugewerkschaft der Ukraine berichteten, dass ihre Gewerkschaft bereits an verschiedenen internationalen Diskussions- und Koordinationsprojekten der Gewerkschaften teilnimmt.

Eine Vielfalt gewerkschaftlicher Solidarität

Im zweiten Teil der Veranstaltung berichteten die Podiumsteilnehmer:innen von unterschiedlichsten Arten der Solidarität durch Mitglieder der DGB-Gewerkschaften. Mary Schneider, Betriebsrätin bei der ERGO-Versicherung in Köln, erzählte sehr betroffen über ihre von Köln aus organisierten Fahrten mit dem VW-Bus während ihrer Urlaube zu an der Front liegenden Orten in der Ostukraine. Mit Unterstützung ukrainischer Kolleg:innen verteile sie dort humanitäre Hilfsgüter an Menschen, die in ihren Kellern der zerstörten Orte überlebt hatten und die über jede Hilfe unendlich dankbar seien. Rolf Wiegand, Fachbereichsleiter Energiewirtschaft bei Ver.di, beschrieb die enge Zusammenarbeit der Kolleg:innen seines Fachbereiches mit den Kolleg:innen in der ukrainischen Energiewirtschaft bei der Unterstützung zur Aufrechterhaltung des Energienetzes der Ukraine, dessen Zerstörung durch die russischen Aggressoren systematisch betrieben wird. Er betonte die wichtige Rolle des Besuches des Vorsitzenden der Gewerkschaft der Atomwirtschaft in der Ukraine während des Ver.di-Kongresses im letzten Jahr. Rolf Wiegand sagte, dass dessen Rede auf dem Ver.di-Kongress einen großen Eindruck hinterlassen hätte und für den Ausgang der Diskussion über die militärische Unterstützung der Ukraine von großer Bedeutung gewesen sei. Informationen über Solidaritätsaktionen der ITF Deutschland, die wir von der ukrainischen Kollegin Olga Losinskaya erhalten hatten, ergänzten das Podium. So hatte die ITF bereits mit dem Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine eine Solidaritätskampagne für die sichere Rückkehr der ukrainischen und russischen Seeleute in ihre Heimat organisiert, die auf ihren Schiffen vom Krieg überrascht worden waren. Zudem hatte die ITF z.B. mehrere Solidaritätsaktionen zur Versorgung ukrainischer Partnergewerkschaften in Odessa mit humanitären Hilfsgütern organisiert. Finanziert wurden solche Solidaritätsaktionen der ITF Deutschland auch durch den vom DGB Bund geschaffenen Verein „Gewerkschaften helfen e.V.“

Aus dem Publikum wurde durch Hermann Nehls, langjähriger Mitarbeiter in der DGB-Bildungsarbeit, noch auf eine weitere Variante der gewerkschaftlichen Solidaritätsarbeit mit der Ukraine aufmerksam gemacht. Er gehörte im letzten Jahr zu einer Gruppe von Gewerkschafter:innen, die in die Ukraine reisten, um mit Vertreter:innen verschiedener Gewerkschaften zu sprechen. Im Ergebnis dieser Reise hatte sich die Reisegruppe dazu entschieden, in Deutschland eine Kampagne für eine sich zu einer Gewerkschaftsgründung ausweitenden Widerstandsbewegung von Frauen in der Care-Branche der Ukraine #BeLikeNina zu starten. Eine wirklich interessante Bewegung in der Ukraine, der sich inzwischen 80.000 Frauen angeschlossen haben und deren Ziel es ist, eine eigene Gewerkschaft zu gründen. Diese Bewegung der neuen (kleinen) Gewerkschaften jenseits der älteren großen Bünde sind in der Tat wohl das interessanteste Phänomen der heutigen Gewerkschaftslandschaft in der Ukraine.

Kontroversen nicht tabuisieren

Als ein Kollege in der Diskussion die These vertrat, dass „wir uns ehrlich machen und sehen sollten, dass das Gros der Kolleg:innen, die die ukrainischen Gewerkschaften unterstützen würden, gegen Waffenlieferungen seien“, führte das zu einer Debatte, in der ihm heftig widersprochen wurde. Mehrfach wurde auf die Kräfteverhältnisse bei der Abstimmung auf dem Ver.di-Kongress im letzten Jahr zu dieser Problematik verwiesen, auf dem es nach einer breiten Diskussion eine Mehrheit von 80% der Delegierten für die militärische Unterstützung der Ukraine gegeben hatte. Zudem wurde darauf aufmerksam gemacht, dass das Gros der Gegner:innen von Waffenlieferung sich vor allem dadurch auszeichnet, dass es keinerlei Solidarität mit den ukrainischen Gewerkschaften organisiert und die Folgen einer russischen Totalinvasion auch für ukrainische Gewerkschaftenzu akzeptieren scheint. Kateryna Danilova von der IG BAU traf die Stimmung im Saal, als sie sagte: Was immer zurecht an der Regierung und der Politik der Ukraine zu kritisieren ist, die Existenz der Ukraine und ihrer Gewerkschaften müsse unbedingt verteidigt werden, und das brauche auch militärische Unterstützung. Große Zustimmung gab es allerdings für die Kritik des Kollgen Nehls daran, dass der zweite Jahrestag des russischen Großangriffs am 24. Februar 2024 so gut wie kein Thema für die DGB-Gewerkschaften war, mit Ausnahme der GEW Berlin, die in der Mitgliedszeitschrift bbz eine sehr wichtige Diskussion zur Frage der solidarischen Unterstützung der Ukraine begonnen hat. Es besteht der Eindruck, dass die in der Mitgliedschaft vorhandenen Kontroversen zu diesem Thema eher tabuisiert als offen ausgetragen würden.

Ukraine-Solidarität der Gewerkschaften – Erfolgsgeschichte oder Trauerspiel?

Bereits bei der Vorbereitung der Veranstaltung erfuhren wir, dass es vielfältige Solidaritätsaktionen mit den ukrainischen Kolleg:innen aus den und durch die DGB-Gewerkschaften gibt, die oft unter großem persönlichen Einsatz von Mitgliedern zustande kommen. Wir mussten aber auch feststellen, dass sie oft weder den Mitgliedern noch Funktionär:innen in der eigenen Gewerkschaft bekannt geworden sind. Bestenfalls durch Beiträge in ihrer Mitgliedszeitung sind den meisten Gewerkschaftsmitgliedern Einzelbeispiele begegnet. Weder innerhalb der Einzelgewerkschaften, noch zwischen ihnen hat sich ein kommunikativer Raum für die Akteure dieser Solidaritätsaktionen gebildet und gewerkschaftliche Gremien haben die Ukraine-Solidarität nicht zur öffentlich wirksamen Kampagne gemacht. Nach unserer Erfahrung gibt es weder bei den Einzelgewerkschaften, noch beim DGB auch nur eine Übersicht, welche und wie viele gewerkschaftliche Solidaritätsaktionen für die Ukraine und ihre Gewerkschaften in den letzten Jahren durchgeführt wurden.

Insofern ist die gewerkschaftliche Ukraine-Solidarität trotz vielfältiger und erfolgreicher Einzelaktionen insgesamt eher ein Trauerspiel, denn die Erfolge verpuffen gesellschaftspolitisch, weil sie weithin unbekannt sind. Deshalb ist es höchste Zeit, dass sich all jene Akteure der Ukraine-Solidarität und des gewerkschaftlichen Internationalismus lautstark zu Wort melden, um die ukrainischen Gewerkschaften in ihrem Zweifrontenkampf nach außen und nach innen zu unterstützen. Auch wenn die Aufmerksamkeit derzeit erlahmt ist, sind die Voraussetzungen für eine inner- wie außergewerkschaftliche Positionierung für eine internationalistische Ukraine-Solidarität immer noch günstig. Sowohl in der Bevölkerung insgesamt wie auch unter dem Gros der Gewerkschaftsmitglieder und -funktionäre sind die Sympathien mit dem Existenzkampf der Ukraine immer noch sehr hoch. Deshalb sollten sich endlich auch gewerkschaftliche Gremien und Einrichtungen der Ukraine-Solidarität annehmen, um den Akteur:innen gewerkschaftliche Kommunikationsräume – auch über Einzelgewerkschaften hinaus – zu ermöglichen und die Ukraine-Solidarität endlich zu einer gesellschaftspolitischen Aufgabe zu machen. Hierfür böten sich vor allem die Bildungswerke an, namentlich jene des DGB.

Denn zwei Dinge sind schon jetzt klar: Die Angriffe der neurechten Diktatoren wie Putin auf die auch von Gewerkschaften historisch erkämpften Freiheitsrechte werden bleiben und damit auch die dringende Notwendigkeit eines gewerkschaftlichen Internationalismus. Zudem steht mit der Ukraine Recovery Conference am 11./12. Juni in Berlin die nächste Herausforderung für die Unterstützung der ukrainischen Gewerkschaften bereits vor der Tür, denn der Gang in ein solidarisches Europa kann künftig nur noch gemeinsam mit ihnen gegangen werden.

Spendenkampagne der Gewerkschaft der Bauarbeiter:innen der Ukraine (PROFBUD)

Name des Empfängers: PROFBUD

Name der Bank: JSC UKREXIMBANK

SWIFT: EXBSUAUX

IBAN: UA42 3223 1300 0002 6005 0000 3887 0

 

Quelle: express 3/2024, S. 12/13.

 

Fotos: Veranstaltungsplakat AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West; DGB-Spendenaudfruf – DGB/Rechtsschutz.