von Renate Hürtgen, 25. März 2023

Tatsächlich ist es sehr viel komplizierter, sich nicht auf populistische Allgemeinplätze von Kriegen, die immer schrecklich sind, zurückzuziehen und das Dilemma zu beschreiben, das sich mit einer Entscheidung pro oder contra Waffenlieferungen an die Ukraine verbindet. Allerdings heißt ja eine Solidarisierung mit den Ukrainer:innen nicht, die deutschen Waffenlieferungen gut zu heißen und auch nicht, die praktische Solidarität aus pazifistischer Gesinnung nicht auf humanitäre Hilfe zu beschränken. Warum also tut sich die Mehrheit der deutschen Linken mit der Solidarität für die Ukraine derart schwer? Warum schweigen viele, schließen sich der Losung „Keine Gewalt!“ an oder drücken sich auf andere Art und Weise davor, ihre Solidarität mit dem Verteidigungskampf der Ukrainer:innen deutlich zu bekunden?

Im Januar 2023 veröffentlichte die SoZ einen Aufruf für die Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften, den sie im Februar in veränderter Fassung, unterschrieben von 75 Personen aus dem linken betrieblichen und gewerkschaftlichen Spektrum, ins Netz stellte. Darin wird um Spenden für humanitäre Hilfe, namentlich für die Gewerkschaften der Eisenbahner:innen und des Krankenhauspersonals gebeten, die sich im Kampf gegen den Abbau von Rechten der abhängig Beschäftigten in der Ukraine befinden. Tatsächlich haben die Regierung sowie verschiedene Oligarchen nach dem Beginn des Krieges ihren neoliberalen Kurs massiv verstärkt und tiefe Einschnitte ins Arbeitsrecht vorgenommen. Die Zeitung analyse & kritik berichtete über den Kampf gegen diese Verschlechterungen des Arbeitsrechts schon im Mai 2022, nachdem sie in Lwiw auch Kontakte zu ukrainischen Gewerkschafter:innen aufgenommen hatte; in unserer Gruppe „For the Right to resist – Linke Ukraine-Solidarität Berlin“, haben wir uns mehrfach aus erster Hand darüber informieren lassen. „Die zweite Kampffront“, nennt Oleg Shkoliar, Eisenbahner und Gewerkschaftsfunktionär, ihren Kampf um Arbeitnehmerrechte. Die „erste Kampffront“ ist ihr Verteidigungskrieg gegen die russische Armee, den sie ausnahmslos, wenn auch auf unterschiedliche Weise, unterstützen.

Die Haltung linker sozialer Akteure und Gewerkschafter:innen in der Ukraine zur militärischen Verteidigung der ukrainischen Souveränität war von Anbeginn klar, unabhängig davon, wo jede und jeder ihren oder seinen Platz darin findet. Und sie scheint ungeachtet vieler existenzieller Probleme, die dieser Krieg in der Ukraine verursacht, ungebrochen, wie ich dem Interview mit Juryi Samojlow, Vorsitzender der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft in Krywyi Rih, entnehme (SoZ 2/23, S. 19). Er spricht davon, dass es die Hauptaufgabe der Gewerkschaft sei, den Mitgliedern, die jetzt in der Armee sind, zu helfen, dass die Armee großen Rückhalt in der Gesellschaft habe, dass die Armee und das Volk in der Ukraine ein und dasselbe seien und dass die Mehrheit der Menschen auf einen Sieg warte. Er schließt an: „Wir hoffen auf einen Sieg, aber wir haben auch einen Klassenstandpunkt.“

Ich habe von Anbeginn bewundert, wie es unseren Kolleg:innen und Genoss:innen in der Ukraine gelingt, ungeachtet ihres existenziellen Kampfes um eine souveräne Ukraine, keinen Deut von ihrer Kritik an der Regierung und den Oligarchen abzuweichen. Den Verfasser:innen des Aufrufs zur gewerkschaftlichen Solidarität gelingt diese Verbindung nicht. Sie erwähnen mit keinem Wort, dass dieselben Gewerkschafter:innen, die sie unterstützen wollen, gerade in einem Verteidigungskrieg gegen die russische Aggression stehen, dass sie nicht nur Opfer in diesem Krieg sind, sondern aktiv in unterschiedlicher Weise an der „ersten Front“ kämpfen.

Den Verfasser:innen des Aufrufs scheint dieser Kampf ohnehin fragwürdig. Sie schreiben von der Devise des „Zusammenrückens“, die die Regierung derzeit ausrufe und der die Bevölkerung „meint“ folgen zu müssen, „um die nationale Souveränität zu erhalten“. Das klingt überhaupt nicht nach einem Aufruf zur Solidarität für die im Kampf stehende ukrainische Bevölkerung, einschließlich der hier bedachten Gewerkschafter:innen. Die Autor:innen des Solidaritätsaufrufs haben sich dafür entschieden, ihre Kolleg:innen als Lohnabhängige zu unterstützen, aber zu ignorieren, dass diese Lohnabhängigen gerade in einem Widerstandskampf gegen Russlands Truppen stehen, ohne den es keine Ukraine und keine ukrainischen Gewerkschaften mehr gäbe. Über diesen Existenzkampf der ukrainischen Gewerkschaften wird im Solidaritätsaufruf kein Wort verloren. Was aber ist eine halbe Solidarität wert?

Nachtrag: Wir stehen alle vor dem schwierigen Problem, uns eine linke Position in einem Verteidigungskrieg um einen souveränen Staat zu erarbeiten, in dem zugleich der Klassenkampf um gewerkschaftliche und andere bürgerlich-demokratische Rechte geführt werden muss. Wann und wo aber hat es je einen nationalen Befreiungskampf in einem Land ohne Klassen gegeben? Wurde das jemals zum Hindernis für eine linke Solidarität? Warum fällt es vielen deutschen Linken aktuell so schwer, die ukrainischen Lohnabhängigen in ihrem Widerstandskampf gegen einen imperialistischen Staat internationalistisch zu unterstützen?

Erschienen: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 3-4/2023, 61. Jahrgang, S. 20