von Renate Hürtgen, 26. April 2024
Den Kampf von Menschen um ihre Unabhängigkeit, gegen Versklavung oder für Befreiung, auch mit militärischen Mitteln zu unterstützen, gehört zu einer meiner politischen Grundhaltungen. Hätte ich in den 1960er Jahren gewusst, dass China und die Sowjetunion an Nordvietnam Waffen liefern, ich hätte es als einen Akt der Solidarität begrüßt. Als sich Deutschland 1992 militärisch in den Krieg einmischte, der nach dem Zerfall Jugoslawiens ausgebrochen war, habe ich die Soldaten dazu aufgerufen, in ihren Kasernen zu bleiben. Der Staatsanwalt hat mich und andere des Aufrufs zum Desertieren angeklagt. Im Februar 2022, nach dem Einfall Russlands in die Ukraine, habe ich mich wiederum dafür entschieden, dass der Verteidigungskampf der ukrainischen Bevölkerung mit allen, auch mit militärischen Mitteln, unterstützt werden muss. Warum?
Emanzipation aus Abhängigkeit
Anders als für meine westdeutschen Kolleg*innen hat mir meine politische Sozialisation in der DDR den Vorteil verschafft, mich sofort in die Lage der Ukrainer*innen versetzen zu können. Meine politische Haltung war immer davon bestimmt gewesen, sich aus der imperialen Abhängigkeit von der Sowjetunion zu befreien und einen eigenständigen Weg, ohne diktatorische Herrschaftsverhältnisse einzuschlagen. Doch erst als die geschwächte Kolonialmacht keine Panzer mehr schicken konnte, eröffnete sich für die Ostblockstaaten und einige Sowjetrepubliken diese Möglichkeit. Mit dem erklärten Kriegsziel, die Ukraine zu russischem Gebiet zu erklären, sollte sich für die Ukrainer*innen dieses Fenster wieder schließen.
Weiterhin kam mir zugute, dass ich mich schon lange vor dem 24. Februar 2022 mit der aktuellen russischen Situation beschäftigt hatte. Ich wusste, auch durch persönliche Begegnungen, von der systematischen Unterdrückung der Zivilgesellschaft, von der Gefahr, die Aktivist*innen durch nationalistische und faschistische Kräfte droht. Mit Entsetzen habe ich nach dem Überfall begriffen, dass Putins Russland sich inzwischen zu einer der reaktionärsten Mächte mit einem aggressiven Anspruch auf Territorien anderer Staaten entwickelt hatte. Aber erst die Begegnung mit Ukrainer*innen, namentlich jenen, die in sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen aktiv sind, hat mir das ganze Ausmaß, das der Ukraine droht, bewusst gemacht. Mit der Eroberung wäre die Vernichtung alles Ukrainischen, einschließlich der gerade erst im Entstehen begriffenen zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Strukturen verbunden. Wie lässt sich gegen eine solche Perspektive anders als mit militärischen Mitteln zur Wehr setzen?
Solidarisierung trotz Widersprüchen
Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen. Sie steht im Widerspruch zu meiner Ablehnung einer Politik der Aufrüstung, zu meiner kritischen Haltung gegenüber der Regierung Selenski und der Politik der EU. Ich halte diese Widersprüche aus, ich gebe nicht der Versuchung nach, mich in die Phrasen vom „Klassenkampf“ oder vom „Frieden, sofort!“ zu flüchten, die schon darum illusorisch ist, weil Putin seine Kriegsziele bisher nicht aufgegeben hat. Ich habe mich dafür entschieden, an der Seite der Ukrainer*innen und meiner politischen Freund*innen, zu stehen. Ich hätte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können, hinzunehmen, dass die ukrainischen Gewerkschafter*innen, die sozialen und politischen Gruppen, die wir solidarisch unterstützen, unter russischer Ägide nicht mehr existierten.
Es wird immer schwerer, in diesem und in anderen Kriegen eine Position zu finden. Ein möglicher Kompass, den wir für unsere Orientierung anlegen können, sind die in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Prinzipien des Völkerrechts. Sie gelten global, sie gelten für die USA, sie gelten auch für Russland.
Renate Hürtgen, GEW-Mitglied, AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost West
Quelle: bbz Berliner Bildungszeitschrift, März/April 2024, S. 20; https://www.gew-berlin.de/aktuelles/detailseite/ambivalenzen-aushalten
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