Der deutsche Staat selektiert wieder jüdisches Leben

Ein Kommentar zur Einstufung der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost als „gesichert extremistisch“ durch den Verfassungsschutz

Durch die Erklärung1 unserer Freund:innen der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost auf ihrer Website hatten wir mit großer Empörung erfahren, dass im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2024 neben den BDS-Gruppen in Berlin und Bonn sowie Palästina spricht, auch die Jüdische Stimme als „gesichert extremistisch“ eingestuft wurde. Am 2. Juli diesen Jahres hatten wir bereits die Reaktion der Jüdischen Stimme als notwendige Antwort auf diese Einstufung durch den Verfassungsschutz auf unserem Blog veröffentlicht.

Doch jetzt, wo der Verfassungsschutz aus Anlass seines 75. Geburtstags offiziell selig gesprochen und über seine „Fehler“ hinweg gegangen wurde, die bestenfalls einige Medien erwähnten, wie etwa seine Verstrickungen in den faschistischen NSU, ist es höchste Zeit, seine empörende Attacke auf die Jüdische Stimme auch von unserer Seite aus zu skandalisieren. Denn mit diesem neuen Angriff auf die Jüdische Stimme und andere hat die Verwandlung des deutschen Staats in einen Büttel der rechtsradikalen Politik der Regierung Israels eine neue Stufe erreicht.

Schon zuvor hatte die Kriminalisierung der Palästina-Solidarität und die Denunziation der Kritik an der gegen Völker- und Menschenrecht verstoßenden Besatzungs- und Apartheidspolitik des Staates Israel gegenüber der palästinensischen Bevölkerung als „antisemitisch“ durch das Establishment aus Politik und Hof-Journaille ein unerträgliches Ausmaß erreicht. Dass das mörderische Massaker der islamistischen Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung für die israelische Regierung zum Anlass eines völkermörderischen Vernichtungskriegs gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza wurde, wird vom herrschenden Machtkartell nicht nur geleugnet oder heruntergespielt, auch die Kritik daran wird systematisch unterdrückt.

An dieser grundsätzlichen Position der Bundesrepublik hat sich auch nichts geändert durch die vorsichtige Distanzierung der Bundesregierung in den letzten Tagen von den unerträglichen Bildern der Massaker, die Israel seinerseits in Gaza angerichtet hat.

Mit der Einstufung einer jüdischen Menschenrechtsorganisation als „gesichert extremistisch“ bewegt sich die skandalöse Politik des deutschen Staates jedenfalls auf einem neuen Niveau der Repression gegen jüdische wie nichtjüdische Menschenrechtsorganisationen.

Schon länger gilt die Unterdrückung der Kritik an der menschenrechtsfeindlichen Politik Israels in Deutschland auch für jüdische Menschenrechtsorganisationen wie die Jüdischen Stimme, die Mitglied in der internationalen Föderation European Jews for a Just Peace ist und die das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 als Kriegsverbrechen kennzeichnete. Als deren deutsche Sektion setzt sich die Jüdische Stimme für einen lebensfähigen palästinensischen Staat ein und fordert den Abzug der israelischen Besatzungstruppen aus den illegal besetzten palästinensischen Gebieten sowie den Abbau der dortigen israelischen Siedlungen. Da sie jegliche Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ablehnt, gleich von welcher Seite, unterstützt sie die zivilgesellschaftliche Kampagne palästinensischer Aktivist:innen, durch Boykott, Desinvestment und Sanktionen (BDS) Druck auf Israel auszuüben, um die Gleichberechtigung der palästinensischen Bevölkerung und den Rückzug Israels aus den palästinensischen Gebieten zu erreichen.

Trotz dieser gewaltfreien, zivilgesellschaftlichen und an Menschenrechten ausgerichteten Aktivitäten der Jüdischen Stimme werden seit Jahren Auftritte ihrer Mitglieder bei Veranstaltungen in Universitäten oder staatlich geförderten Einrichtungen durch politischen und finanziellen Druck der Regierenden systematisch verhindert; Konten der Jüdischen Stimme bei Banken wurden auf politischen Druck hin mehrfach gesperrt. Die orchestrierte Hetze gegen die Jüdische Stimme während und nach der Verleihung des Göttinger Friedenspreises 2019, erreichte eine fanatisch zu nennende Dimension, die verriet, dass die deutsche „Staatsraison“ ins scheinmoralische Mark getroffen war.

Mit der Einstufung der Jüdischen Stimme als „gesichert extremistisch“ durch den Verfassungsschutz erreicht die Diskriminierung jüdischer Menschenrechtsorganisationen nun eine neue Stufe: Erstmals wieder seit der Nazi-Zeit selektiert der deutsche Staat durch eine Behörde ganz offiziell jüdisches Leben in nützlich und nicht-nützlich, wie die fast gleichzeitig erfolgte Einladung des mit internationalem Haftbefehl gesuchten Kriegsverbrechers Benjamin Netanjahu durch Bundeskanzler Merz nach Deutschland überdeutlich macht.

Der Schlag gegen die Jüdische Stimme als deutscher Sektion der European Jews for a Just Peace ist zugleich ein Anschlag des deutschen Staats auf die internationale jüdische Menschenrechts- und Friedensbewegung, auch auf die in Israel selbst. Die vermeintlich über der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit stehende „deutsche Staatsraison“ zugunsten Israels und seiner menschenrechts- und völkerrechtsfeindlichen Politik entlarvt sich so selbst als ein politisches Interesse, dem es nicht um den Schutz „jüdischen Lebens“ und schon gar nicht um Menschen- und Völkerrecht geht, sondern ausschließlich um die politische Nützlichkeit für die Bundesrepublik als Nachfolgestaat des Dritten Reiches.

So ist es höchste Zeit, an die Quelle der vermeintlichen „deutschen Staatsraison“ gegenüber Israel zu erinnern. Es war kein schlechtes Gewissen und keine „moralische Verpflichtung“ gegenüber jüdischen Opfern, sondern der Druck der USA, der Westdeutschlands Zahlungen an Israel bewirkte, de facto als Ausgleich für den Verzicht der USA auf eine konsequente Entnazifizierung in Westdeutschland. Die westdeutsche “Wiedergutmachung“ an Israel war zugleich die Beruhigungspille der US-Politik gegenüber Beschwerden von jüdischen Organisationen über den Schmusekurs mit den ehemals Mächtigen im Nazi-Reich seit Beginn des Kalten Kriegs. Die Integration der gesichert antikommunistischen alten Nazis in die Front des Kalten Kriegs gegen die Sowjetunion hatte den Vorrang für die westliche Supermacht. Die „Wiedergutmachungszahlungen“ und die Waffenlieferungen an Israel waren das Eintrittsbillet des mit „alten Kameraden“ auf allen Ebenen durchseuchten Westdeutschlands in die US-beherrschte „westliche Welt“. Dennoch führten selbst vorsichtige Versuche der bundesdeutschen Politik unter Helmut Schmidt, den palästinensischen Menschen Gerechtigkeit widerfahren zulassen, sofort dazu, dass Israel am Lack der ach so geläuterten und bekehrten Bundesrepublik kratzte und auf die braunen Flecken auf der Weste des westdeutschen Staats wieder international aufmerksam machte. Das störte und stört natürlich Renommee und gute Geschäfte des deutschen Kapitals, zumal, wenn man weltpolitisch im Fahrwasser der USA und ihrer mächtigen proisralischen Lobby segelt. Wie sagte der reaktionäre Realpolitiker Konrad Adenauer 1966 so entlarvend: „Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen.“2

Das ist der harte Kern der so genannten Staatsraison, der mit moralinem Zuckerguss verkleidet wird. Gegenüber den Opfern des völkermörderischen Vernichtungskriegs Nazi-Deutschlands gegen die „slawischen Untermenschen“ im Osten hat es eine „Staatsraison“, die es erlaubt, über aktuelle Verletzungen von Menschen- und Völkerrecht durch Nazi-Opfer nach 1945 hinweg zu sehen, nicht gegeben.

Der staatliche Angriff auf die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost und die anderen Menschenrechtsorganisationen zeigt, dass die erkämpften Freiheitsrechte nicht nur von der radikalen Rechten in Deutschland und der EU oder von Wladimir Putin und Donald Trump bedroht sind, sondern auch von der sogenannten politischen Mitte in Deutschland. Allein die Etablierung einer vermeintlich über allen Gesetzen stehenden „Staatsraison“ durch das Establishment „der Mitte“ ist ein Anschlag auf die Demokratie, einer freiheitlichen zumal, auf die im Grundgesetz verankerten Bürger- und Menschenrechte.

Für uns freiheitliche Sozialist:innen aus der DDR, ist es nicht nur selbstverständlich, sich solidarisch mit der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost und den anderen Menschenrechtsorganisationen zu erklären, die sich gegen die menschenrechtsfeindliche Politik Israels gegenüber den Palästinenser:innen engagieren. Wir fordern nicht nur die Aufhebung ihrer Einstufung als „gesichert extremistisch“ und die Bestrafung der Verantwortlichen als Attentäter auf die im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit. Wir fordern auch die gesamte emanzipatorische Linke auf, sich gegen alle Angriffe auf die historisch erkämpften Bürger- und Menschenrechte zusammenzuschließen und sich gemeinsam diesen Angriffen zu widersetzen.

Für uns, die in der DDR hinreichende Erfahrungen mit der diktatorischen Unterdrückung demokratischer Freiheitsrechte gesammelt und in der emokratischen Revolution von 1989 diese Freiheitsrechte erkämpft hatten, ist die Solidarität mit der jüdischen Menschenrechtsbewegung in Deutschland, Europa, Israel und überall in der Welt ein besonderes Anliegen – schließlich hatten wir uns in diesem freiheitlichen und demokratischen Selbstverständnis am Zentralen Runden Tisch schon 1990 auch für die Wiederherstellung jüdischen Lebens in der DDR sowie für die jüdische Immigration engagiert. Auch im AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West sind für uns der Bezug auf die internationalistische jüdische Arbeiterbewegung wie den Jüdischen Bund und auf den jüdischen Widerstand gegen die deutsch-faschistische Okkupation ein wesentlicher Ausgangspunkt nicht nur für unser Eintreten gegen jeglichen Antisemitismus. Sie sind es auch für unsere Solidarität mit der jüdischen Menschenrechtsbewegung und mit dem jüdischen Widerstand gegen antiarabischen Rassismus und Nationalismus hierzulande und in Israel. In diesem Geist haben wir uns auch im AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West seit Jahren solidarisch für die Jüdischen Stimme engagiert und werden es jetzt erst recht tun.

Diese Solidarität basiert jedoch nicht nur auf der Vergangenheit, sie basiert vor allem auf der Erkenntnis, dass sie der Stärkung der einzigen politischen Kräfte dient, die innerhalb der israelischen Gesellschaft für eine friedliche Zukunft in Nahost und einen dauerhaften Frieden zwischen Israel und Palästina stehen, für einen Frieden, der kein Friedhofsfrieden ist. Denn sie halten die Fahne des Internationalismus und der Menschenrechte im übermächtigen Apartheidsstaat hoch und sind nicht dem nationalistischen, rassistischen oder religiösen Wahn verfallen.

Der ruchlose Anschlag des Verfassungsschutzes auf die jüdische Menschenrechtsbewegung und die Palästina-Solidarität sollte die emanzipatorische Linke endlich wachrütteln, um sich entschlossen an die Seite der jüdischen Menschenrechtsbewegung in Deutschland, Israel und überall auf der Welt zu stellen und um gegen die Einstufung der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost als „gesichert extremistisch“ lautstark zu protestieren.

Fußnoten:

Fotos:

Jüdische Stimme im Fadenkreuz der Repression: Screenshot der Veranstaltung auf Youtube

Blut und Boden – Not in my Jewish name: Redaktion