Obgleich Ostdeutschland in den Jahren 1990 bis 1994 eine Welle massiver sozialer Kämpfe von abhängig Beschäftigten, Erwerbslosen, Mieter*innen, Grundstückseigentümer*innen und Kleingärtner*innen erlebte, sind die Erinnerungen daran fast völlig aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden. Das betrifft vor allem die von Belegschaften, Betriebs- und Personal rät*innen sowie regionalen Gewerk schaften geführten Kämpfe gegen die Treuhandpolitik, welche – neben den von DGB-Gewerkschaften geführten großen Streiks zur Lohn- und Tarifanpassung von Ost an West – hundert tausende Ostdeutsche mobilisierten. Diese Widerstandsaktionen fanden nahezu flächendeckend statt und erfassten große wie kleine Betriebe. Sie gehören zu den großen sozialen Kämpfen auf dem Gebiet des heutigen Ostdeutschlands.
Mit der Ankündigung großflächiger Privatisierungen und Massenentlassungen durch die Treuhandanstalt entstand Ende 1990 aus bis dahin nur vereinzelten Belegschaftsprotesten, wie etwa im Chemiefaserwerk Premnitz, eine Protestwelle, die nunmehr auch ganze Branchen erfasste. Exemplarisch für diese Kämpfe waren die Auseinandersetzungen um den ostdeutschen Schiffbau, die von den Menschen der Region ebenso wie von der örtlichen IG Metall und der ÖTV unterstützt wurden. Mit einer einstündigen Arbeitsniederlegung von mehr als 4.000 Beschäftigten der Rostocker Neptun-Werft gegen die drohende Stilllegung ihres Unternehmens begann im Januar 1991 eine Protest- und Streikwelle, die die gesamte ostdeutsche Ostseeküste erschütterte. Ihren Höhepunkt fanden die Aktionen mit der Besetzung der Werften in Rostock, Stralsund, Warnemünde und Wismar im Frühjahr 1992. Der Rügendamm wurde durch die Werftarbeiter*innen gesperrt, Azubis mauerten den Eingang der Rostocker Treuhand-Filiale zu. Ihr Motto: «Ihr vermauert unsere Zukunft, wir vermauern euren Eingang!» Adressaten der Proteste waren, neben der Treuhandanstalt, auch Landes- und Bundesregierung, die von einer Zerlegung der Werften und der Seereederei abrücken und zu einem Gesamtverkauf bewegt werden sollten. Aus der Fülle der Proteste und Streiks können hier lediglich einige spektakuläre Fälle hervorgehoben werden. So organisierte die IG Metall Leipzig, ausgehend vom Druck der Betriebsräte der Leipziger Großbetriebe, seit Anfang März 1991 neue Montagsdemonstrationen. Schon zur ersten Montagsdemo waren wieder 60.000 Menschen auf dem Ring. Die Montagsdemos dehnten sich in den Folgewochen auf Ostberlin und viele andere Städte Ostdeutschlands aus; mehr als 100.000 Men schen beteiligten sich. Erst durch den vereinten Druck von etablierter Politik, Medien und Gewerkschaftsführungen wurden die Demonstrationen schließlich abgebrochen. Die Chance, sie zu einer ostdeutschlandweiten Protestbewegung gegen die Privatisierungs- und Zerstörungspolitik von Bundesregierung und Treuhandanstalt auszuweiten, wurde damit vergeben. Im September 1991 besetzten die Beschäftigten der Keramischen Werke Hermsdorf, die statt der Schließung des Betriebes den ersten ostdeutschen Börsengang erhofft hatten, das Hermsdorfer Autobahnkreuz. Im November 1991 erlebte Brandenburg einen heißen Herbst der Stahlwerker*innen. Als sie gemeinsam zu Abertausenden vor den Landtag in Potsdam zogen, drohte ihr Proteststurm zur Initialzündung für einen Flächenbrand zu werden. Im Dezember besetzte die Belegschaft des Stahl- und Walz werkes Hennigsdorf – aus Protest gegen die geplante Filetierung des Betriebes und die man gelnde soziale Absicherung der von Entlassung Bedrohten – für neun Tage das Werk. In diese spektakulären Widerstandsaktionen, die eine ganze Region erfassten, ist auch der einzige im kulturellen Gedächtnis gebliebene Kampf der Kaliwerker in Bischofferode einzureihen. Der Widerstand gegen die Treuhandpolitik wurde häufig mit radikalen Methoden des zivilen Ungehorsams geführt. Straßen- und Autobahnblockaden setzten sich als Mittel der Wahl durch; besondere Höhepunkte waren die bereits er wähnten Blockaden des Rügendamms und des Hermsdorfer Kreuzes durch die Beschäftigten sowie die Besetzung des Flughafengebäudes in Dresden-Klotzsche durch die Belegschaft des Edelstahlwerks Freital.
Die meisten Streiks gegen die Treuhandanstalt waren so genannte wilde Streiks. Neben den zahlreichen Betriebsbesetzungen und den bei den Hungerstreiks bei der Batteriefabrik BELFA in Berlin und beim Kali-Schacht «Thomas Müntzer» in Bischofferode ist auch der unkonventionelle Kampf regionaler DGB-Gewerkschaften hervorzuheben. Denn sie unterstützten oftmals nicht nur solche «wilden» Streiks, Straßen-, Autobahnblockaden und Betriebsbesetzungen, sondern organisierten – mit den genannten Werftbesetzungen, die sich gegen die Bundes- und Landesregierung richteten, oder mit Aktio nen wie «5 vor 12» des Aktionsbündnisses «Thüringen brennt!» – sogar politische Streiks, die eigentlich ein Tabu für bundesrepublikanische Gewerkschaften sind. Zu einem der bedeutendsten Ereignisse des Widerstands gegen die Treuhandpolitik wurde die Gründung der «Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute» im Juni 1992. An ihr beteiligten sich Vertreter*innen Berlins, Brandenburgs, der Ostseeküste und des Chemie-Dreiecks. Ihr Ziel war es, durch branchen- und Regionen übergreifende Kampfmaßnahmen breiten Widerstand gegen die Privatisierungspolitik zu organisieren, um Druck auf Politik, Treuhandanstalt und Gewerkschaften auszuüben. Es war der Versuch, die zahlreichen «Einzelfeuer» des Protestes zum Flächenbrand auszuweiten – eine Aufgabe, zu der sich die Gewerkschaftsspitzen, trotz ihrer Kritik an der Treuhandpolitik, nicht entschließen konnten. Die «Initiative» protestierte mehrfach vor der Treuhandanstalt und erreichte ein Gespräch mit deren Präsidentin, Birgit Breuel. Da das Gespräch keinerlei Zugeständnis erbrachte, protestierten 300 Betriebsrät*innen am 12. September 1992 in Bonn. Daraufhin luden die Bundestagsfraktionen sie zu Gesprächen ein; sechs Betriebsräte wurden sogar von Bundeskanzler Kohl empfangen. Zum Höhepunkt wurde das Gespräch in der CDU-Fraktion, in dessen Verlauf es zu heftigen Auseinandersetzungen mit Staatssekretär Joachim Grünewald kam. Nachdem dieser erklärt hatte, kein einziger überlebensfähiger Betrieb sei geschlossen worden, erhob sich ein Proteststurm; ein Betriebsrat, der CDU-Mitglied war, erklärte gar, dass «es jetzt noch blutig werden» könne.
1993 entwickelte die «Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute» dann eine breite Solidaritätskampagne für weitere von Schließung bedrohte Betriebe, so etwa für die Kämpfe der Belegschaften von BELFA in Berlin und der Kali-Kumpel in Bischofferode. Die Bedeutung der «Initiative» erwuchs aus dem Umstand, dass die Gewerkschaften eine solche branchen- und Regionen übergreifende Solidarität nicht organisierten. Im Falle der Kali-Kumpel in Bischofferode bekämpften die Vorstände der IG Bergbau und der IG Chemie, Papier, Keramik sogar offen deren Kampf um den Erhalt des Schachtes, da das Kali-Werk eine Konkurrenz für westdeutsche Kali-Arbeitsplätze bedeutete. Die Solidarität gewerkschaflicher Basisaktivist*innen aus ganz Deutschland machte Bischofferode aber dennoch zum Symbol des Widerstands ostdeutscher Belegschaften gegen den Privatisierungswahn der Treuhandanstalt. Bekanntermaßen kam es nicht zu jenem «Flächenbrand» von Streiks und Protesten, der allein die Politik von Bundesregierung und Treuhandanstalt hätte verhindern können. Obwohl die Kämpfe verloren gingen, sind sie es wert, der Vergessenheit entrissen zu werden. Sie waren und sind ein Ausdruck der Würde der Lohn abhängigen in Ostdeutschland und damit eine wichtige Voraussetzung für künftige soziale Kämpfe.33
Anmerkung
33 Zu den Quellen siehe folgende Dokumentationen im Archiv sozialer Kämpfe in Ostdeutschland seit 1990 (unter https://geschichtevonuntenostwest.org/archiv-sozialer-kaempfe-in-ostdeutschland-nach-1990/): Streiks und soziale Proteste in Ostdeutschland 1990 1994. Eine Zeitungsrecherche von Dietmar Dathe im Auftrag des AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost West, Berlin, Dezember 2018; Dokumente der Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute. Materialien zur Tagung Ostwind – Soziale Kämpfe gegen Massenentlassungen und Be triebsschließungen in Ostdeutschland 1990 bis 1994, 23.–24. Juni 2017, Haus der Demokratie und Menschen rechte Berlin, zusammengestellt und mit einem Vorwort von Bernd Gehrke, hgg. vom AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West, Berlin, Juni 2017; Dokumente des Bündnis kritischer Gewerkschafter/innen Ost West (BKG), 1990 bis 1997, zusammengestellt und mit einem Vor wort von Renate Hürtgen, hgg. vom AK Geschichte sozia ler Bewegungen Ost-West, Berlin, September 2017.
Der Beitrag erschien ursprünglich in der im Juli 2019 von der Rosa Luxemburg Stiftung heraus gegebenen Begleitbroschüre zur gleichnamigen Ausstellung „Schicksal Treuhand. Treuhand Schicksale“. Die Broschüre kann hier abgerufen werden: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Begleitbuch_Treuhand.pdf
Foto: Flugblatt der Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute, Redaktion