von Sélim Nassib, 2. November 2024

Für den libanesischen Schriftsteller Sélim Nassib ist die Suche nach einem Ausweg aus dem Krieg genau das, was Benjamin Netanjahu bekämpft, der seine Zukunft. seine persönliche und die Israels, auf dem Fortbestand des Hasses aufbaut.

Innerhalb eines Jahres hat Netanjahu eine Taktik entwickelt, die es ihm ermöglicht, die Hamas zu treffen, indem er Gaza zerstört, die Hisbollah durch Bombardierung des unglücklichen Libanon zu treffen und jede Kritik, die in Israel oder in der Welt an ihm geübt wird, zur Ohnmacht zu verdammen. Solange er die Unterstützung der USA genießt, scheint er freie Hand zu haben, um so ziemlich alles zu tun, was er will. Aber was will er?

Sein politisches Überleben sichern und dem Gefängnis entgehen, das wurde schon oft genug gesagt. Lediglich seine vom Iran unterstützten Hauptfeinde zu schlagen – das sei das einzige, worum es ihm gehe, wie er immer wieder beteuert. Aber wenn es zu einem militärischen Sieg kommt, was wird er damit anfangen? Jedes Mal, wenn ihn die Amerikaner drängten an den „Tag danach“ zu denken – und ihm versicherten, dass die Aussicht auf einen palästinensischen Staat die Hamas marginalisieren und den Weg für einen Kompromissfrieden ebnen würde – lehnte er dies vehement ab. Denn dieser Ausweg ist genau das, was er sein ganzes Leben lang bekämpft hat – man könnte auch sagen: seit seiner Geburt.

Was er im Grunde genommen sucht, geht aus seiner Rede vor den Vereinten Nationen hervor. Auf den Landkarten, mit denen er seine Vorstellung von Gut und Böse illustrierte, war auf der Karte Israels keine Spur vom Westjordanland oder dem Gazastreifen. Das Land erscheint in einheitlichem Beige – vom Fluss bis zum Meer. Und so wird nachvollziehbar, dass die Feldzüge des Militärs im Süden und im Norden, bei denen ein regionaler Krieg riskiert wird, nur Mittel zur Erreichung ein und dasselben Ziels sind: die Errichtung eines jüdischen Staates in ganz Palästina.

Das Ziel, Gaza zu rekolonialisieren

Diese mehr oder weniger eingestandene Forderung ist natürlich nicht neu. Aber das vergangene Jahr hat sie wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist allgemein bekannt, dass Netanjahu die Hamas vor dem 7. Oktober mit allen Mitteln unterstützt und sogar physisch dafür gesorgt hatte, dass die Millionen Dollar, die Katar ihr schickte, zur Hamas nach Gaza transportiert werden konnten. Gleichzeitig setzte er alles daran, um die im Westjordanland etablierte Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen. Der Grund dafür ist einfach: Ein Feind, der Krieg will, ist für ihn besser als ein Feind, der Frieden will, dem er etwas zurückgeben muss, wie z.B. einen Rumpfstaat Palästina. Anstatt die Verantwortung für das schwere Versagen am 7. Oktober zu übernehmen, nutzte Netanjahu die Situation stattdessen, um die gleiche Politik noch weiter voranzutreiben.
Zwar schickte er seine Armee in der Absicht nach Gaza, die islamistische Organisation zu zerschlagen. Aber letztendlich hat er Gaza nachhaltiger zerstört als die Hamas. Ob diese nun aus der Asche auferstehen wird oder ob die Kinder, die vor den israelischen Bomben geflohen sind und in deren Augen das Erlittene eingebrannt bleibt und sie erst in zehn Jahren eine noch radikalere Organisation gründen werden: Netanjahu wird „erfolgreich“ gewesen sein. Mehr noch als heute wird er den Westen als Zeugen der Barbarei dieses blutrünstigen antisemitischen Gegners anrufen, der nichts weniger als die Vernichtung Israels anstrebe und gegen den es keine andere Wahl hat, als sich zu verteidigen. Wird es aber einen „Tag danach“ geben?

Für die unmittelbare Zukunft wird Netanjahus Idee darin bestehen, die Enklave in zwei Teile zu teilen, Nord-Gaza und Süd-Gaza, an der Grenze zu Israel eine unbewohnte Pufferzone zu schaffen und das gesamte Gebiet unter militärischer Kontrolle vor sich hin vegetieren zu lassen – in einem somalisch anmutenden Chaos lokaler Stämme und Mafias, auf die Netanjahu sich stützen würde. Das Ziel, den Gazastreifen wieder durch Siedler zu rekolonialisieren, wird jedoch nicht aufgegeben. Netanjahu weist das bislang von sich, obwohl elf seiner Minister im Januar an einer Versammlung von mehreren Tausend Menschen teilgenommen haben, die sich für den „Transfer“ der Palästinenser aus der Enklave aussprachen – weil dies „göttlicher Wille“ sei. Auf eine entsprechende Frage antwortete Netanjahu nüchtern, dass die gewählten Volksvertreter und Minister, die an dem Treffen teilnahmen, „ein Recht auf ihre Meinung“ hätten. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage würden 40% der jüdischen Israelis eine solche Neukolonialisierung befürworten.

Gewalttätige Ausschreitungen, Brandschatzung und Mord

Zugleich wird im Westjordanland der Prozess der Enteignung der Palästinenser mit eben solcher Gewalt betrieben. Unter dem wohlwollenden Blick des israelischen Militärs tragen extremistische Siedler, die sich ihrer Straffreiheit sicher sein können, das Ihre zur Regierungspolitik bei mit nächtlichen Überfällen auf palästinensische Dörfer, einhergehend mit gewalttätigen Ausschreitungen, wie Brandanschlägen und Morden; mit der Behinderung der Aussaat auf den Feldern, anschließend von der Besatzungsmacht unter dem Vorwand beschlagtnahmt werden, sie lägen brach; Verweigerung von Baugenehmigungen und Abriss von sogenannten „illegalen“ Gebäuden – die Liste ist lang. Alles schreit den Bewohnern des Westjordanlandes zu: Verschwindet von hier!

Es ist bequem, für diese Politik allein den „bösen“ Netanjahu und seine rechtsextremen Verbündeten an der Macht zu beschuldigen. In Wirklichkeit setzen sie lediglich eine Strategie fort, die der Enteignungen, die schon vor der Gründung Israels eingeleitet wurde. Ihr Traum ist aber eine Vertreibung wie die historische, die der säkulare und labour-orientierte Ben Gurion 1948 erfolgreich durchgeführt hatte. Doch die Zeiten haben sich geändert, und die Palästinenser sind entschlossen, sich nicht ein weiteres Mal vertreiben zu lassen. (…)

Die riesigen Demonstrationen, die im vergangenen Jahr in Israel stattfanden und bei denen die Freilassung der Geiseln gefordert wurde, erweckten den Eindruck, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung gegen den Staat und Netanjahu auflehnt. Was auch stimmt, aber nur, um ihm vorzuwerfen, dass er bei ihrem Schutz versagt habe und die Geiseln ihrem traurigen Schicksal überlässt. Kaum jemand forderte hingegen das Ende des Krieges oder der Besatzung. Das Mitgefühl und die Solidarität, die unter den Israelis aufgrund des Traumas vom 7. Oktober entstand, haben sie blind gemacht für die Schrecken, die ihre Armee der Bevölkerung von Gaza weiterhin zufügt. Die Worte „Palästinenserstaat“ sind praktisch zu einer Beleidigung geworden. Es gibt hier und da sicherlich noch unversöhnliche Pazifisten, vielleicht sind sie zahlreicher als man denkt, aber sie bilden keine Einheit mehr. Die größte Gruppe der israelischen Bevölkerung und der Großteil der Linken ist umgefallen, weil viele der Opfer des Massakers junge Leute waren, die auf „Raves“ gingen, die beim „Friedensrave“ tanzten, oder Bewohner linker Kibbuzzim, von denen einige den Kindern in Gaza beim Schulbesuch geholfen hatten. Nun heißt es: Sie hassen uns alle, wir müssen uns verteidigen, wir haben keine Wahl. Selbst wenn sie die Regierung kritisiert, scheint sich die israelische Gesellschaft hinter diesem Credo vereint zu haben. Seit einem Jahr ist dies der größte Erfolg Netanyahus.

Lebendige und dynamische Gesellschaft

Unterworfen, haben viele andere Bevölkerungen, während sie unter Kolonialisierung und Besatzung lebten, mehr oder weniger schicksalsergeben abgewartet, dass es vorüber geht. Die Palästinenser hingegen haben diese Möglichkeit nicht, weil ihnen sogar der Platz des Besiegten verweigert wird. Israel hat nie darauf abgezielt, sie zu regieren, sie zu zivilisieren oder sie auszubeuten. Es wollte einfach nur, dass sie nicht da sind.

Im Jahr 1948 wurden die Palästinenser vertrieben und ihre Dörfer zerstört. Die Rückkehr wurde ihnen verwehrt. Seit Beginn des Krieges gegen Gaza zerstört die israelische Armee systematisch ihre Häuser in Gaza, und zwar durchweg, noch bevor sie sie verlassen haben. Obwohl sie anwesend waren, blieb es die Anwesenheit Abwesender, als wären sie durchsichtig. Das geisterhafte Umherirren der zwei Millionen Palästinenser in der Enklave, die wie Zombies unaufhörlich von links und rechts getrieben werden, ist ein Spiegelbild dieser Phantasie von ihrem Verschwinden. Die Israelis sehen sich selbst oft als Opfer, die grundlos bedroht werden, sie realisieren nicht, dass sie als feindselige Siedlerkolonie wahrgenommen werden, die nur Unglück über die Region gebracht hat.

Quelle: Pas de place pour le vaincu par Sélim Nassib, écrivain publié dans Libération le 5 octobre 2024; https://www.liberation.fr/idees-et-debats/un-an-apres-le-7-octobre-pas-de-place-pour-le-vaincu-par-selim-nassib-20241005_3EJJQQL6XBHFFAORY3J3JNS5QE/

Übersetzung: Sophia Deeg

Foto: https://www.alfarah.no/2023/04/selimnassib/