Welche Rolle spielt die Rehabilitierung des Stalinismus in Putins offizieller Ideologie? Wie sollte die demokratische Linke damit umgehen? Der Publizist Daniel Traubenberg beschreibt die Entwicklung der Haltung gegenüber Stalin in Russland vom Zusammenbruch der UdSSR bis heute (Vorbemerkung von Posle.Media)

In den letzten Jahrzehnten hat in Russland eine Rehabilitierung der Stalin-Ära[1] stattgefunden. Damit einher geht eine enthusiastische Neubewertung der sowjetischen Geschichte, einschließlich ihrer umstrittensten Aspekte. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 hat sich dieser Prozess deutlich beschleunigt und beginnt, die Züge einer offiziellen staatlichen Erinnerungspolitik anzunehmen. Joseph Stalin wird zunehmend nicht nur als politischer Führer dargestellt, der eine Schlüsselrolle bei der Industrialisierung des Landes und seinem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg spielte, sondern auch als effektiver Manager, der in Krisenzeiten „Ordnung“ schaffen konnte.
Immer mehr hochrangige Vertreter des Staates und Politiker in Russland äußern sich positiv über Stalin. So hat beispielsweise Wladimir Putin wiederholt eine ausgewogenere Bewertung der Rolle Stalins in der Geschichte gefordert[2] und dessen Beitrag zur Entwicklung des Landes hervorgehoben. In einigen Regionen sind Denkmäler für Stalin entstanden, was auf eine wachsende Unterstützung für solche Initiativen auf lokaler Ebene hindeutet. So wurde beispielsweise 2024 in Wologda eine Statue von Josef Stalin errichtet. Der Gouverneur der Region nahm an der Enthüllungszeremonie teil. Solche Ereignisse werden in der Regel von Narrativen über die Notwendigkeit der Bewahrung des historischen Gedächtnisses und die Bedeutung der patriotischen Erziehung begleitet.
Diese Rehabilitierung Stalins spiegelt sich auch in in soziologischen Daten wider. [3] Umfragen zufolge wächst der Anteil der Russen, die Stalin positiv sehen, von Jahr zu Jahr. Dieser Trend betrifft nicht nur die ältere Generation, sondern auch die Jugend. In der öffentlichen Debatte werden auch Narrative wiederbelebt, die Repressionen als „notwendige Maßnahme“ zur Erreichung staatlicher Ziele rechtfertigen. Diese Position wird von Menschenrechtsaktivisten und Forschern kritisiert, die auf die Massenrepressionen und Menschenrechtsverletzungen der Stalin-Ära hinweisen.
Protest gegen den Stalinismus in den 1990er Jahren
Der postsowjetische Stalinismus hat eine komplexe und facettenreiche Geschichte. Er entstand nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem anschließenden Übergang zur Marktwirtschaft. Einer der Hauptgründe für das Wiederaufleben des Stalinismus im öffentlichen Bewusstsein war die weit verbreitete Enttäuschung über die Reformen der 1990er Jahre. Diese Reformen, zu denen Privatisierungen, hohe Inflation und der Abbau sozialer Garantien gehörten, führten zur Verarmung von Millionen Menschen. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde Stalin zum Symbol für den „starken Mann“, der soziale Ordnung durchsetzte, im Gegensatz zum Chaos und zur Ungerechtigkeit der postsowjetischen Transformation.
Die Idealisierung Stalins war auch eine Reaktion auf die heftige Kritik an der Sowjetzeit, die in den 1990er Jahren von liberalen Politikern und Intellektuellen in der Regierung und den Medien geäußert wurde. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung empfand diese Kritik als Beleidigung und Abwertung ihrer Vergangenheit. Der Stalinismus bot hingegen eine alternative Erzählung, die sich auf Industrialisierung, militärische Siege und soziale Gleichheit konzentrierte. Inmitten des Verlusts ihrer früheren Identität nahm die stalinistische Rhetorik Elemente der Nostalgie für eine Zeit auf, in der der Staat für Ordnung und Gerechtigkeit zu sorgen schien.
Viele oppositionelle politische Parteien in den 1990er Jahren übernahmen entweder direkt stalinistische Ansichten oder nutzten den Stalin-Kult, um sozial schwache Gruppen zu mobilisieren, die mit den liberalen Reformen unzufrieden waren.
Beispiele für solche politischen Bewegungen1 sind Wiktor Anpilows „Werktätiges Russland“ und die Russische Kommunistische Arbeiterpartei (Российская коммунистическая рабочая партия – КПСС (РКРП-КПСС/RKAP-KPSSR).[4] Diese Organisationen kritisierten aktiv die Marktreformen, die Privatisierung, die Verschlechterung der Lebensbedingungen und die Zerstörung des sowjetischen Sozialversicherungssystems. In ihren politischen Dokumenten und öffentlichen Reden stellten sie Stalin als Symbol für einen gerechten Sozialstaat, industrielle Entwicklung und eine unabhängige Außenpolitik dar. All dies steht im Gegensatz zum „Verrat“ der liberalen Elite, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR an die Macht gekommen war.
„Werktätiges Russia“ verwendete bei Kundgebungen stalinistische Symbolik. Bei ihren organisierten Aufmärschen wurden Porträts von Stalin gezeigt und die Wiederherstellung einer sozialistischen Wirtschaft nach stalinistischem Vorbild gefordert. Die РКРП/RKAP positionierte sich als direkte Nachfolgerin der leninistisch-stalinistischen Tradition. Sie lehnte nicht nur den Kapitalismus ab, sondern auch die Politik der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), die sie als zu moderat und versöhnlich betrachtete.
Stalin ist auch bei nationalkonservativen und monarchistischen Gruppen populär geworden. Sie lösen den Stalinismus aus seinem marxistischen Kontext und konzentrieren sich auf Elemente der nationalen Mobilisierung, der staatlichen Souveränität und der repressiven Politik. In dieser Zeit entstand der Begriff „Rot-Braun“, der eine ideologische Verbindung zwischen linken Revanchisten und rechten Nationalisten bezeichnet, die sich auf einer Plattform des Antiliberaliberalismus und Antiwestlertums vereint haben.
Für einen bedeutenden Teil dieser nationalen Patrioten war die Zeit der „Antikosmopolitismus-Kampagne“ Ende der 1940er bis Anfang der 1950er Jahre eine entscheidende Phase des Stalinismus. In dieser Zeit appellierte die sowjetische Propaganda aktiv an nationale Werte und verstärkte den Staatsdirigismus und den russischen Ethnozentrismus. Diese Zeit war geprägt von nationalistischer Rhetorik, die besonders Konservative und Monarchisten anzog, die den stalinistischen Staat als Nachfolger des Russischen Reiches sahen[5].
Die Ideologie der „rot-braunen“ Bewegung basierte weitgehend auf den Konzepten des russischen Nattionalbolschewismus[6], der in den 1920er und 1930er Jahren in der russischen Emigrantengemeinschaft entstanden war. Nikolai Ustryalow, ein ehemaliger Kadett und „weißer“ antibolschewistischer Emigrant, wurde später einer der Ideologen des „Smenowechowstwo“ (abgeleitet von „Wechsel der Wegweiser“) – einer Bewegung, die die UdSSR unter Stalin als Wiederbelebung einer imperialen Ordnung ähnlich der zaristischen Autokratie sah. Dieses Konzept war der Grund, warum einige ehemalige Offiziere der Weißen Armee und Intellektuelle Stalin schließlich als Nachfolger der russischen Staatlichkeit anerkannten.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Idee in nationalpatriotischen Kreisen in der UdSSR und später im postsowjetischen Russland weiterentwickelt. Der Schriftsteller und Publizist Alexander Prochanow[7] wurde zu einem der wichtigsten Vertreter dieser Bewegung. In seinen Werken und in der Zeitung Sawtra verband er Elemente des Stalinismus, des russisch-orthodoxen Messianismus[8] und der monarchistischen Ideologie. Er stellte Stalin als „roten Kaiser“ dar. Für ihn war Stalin nicht mehr nur ein marxistischer Revolutionär. Er wurde zum Symbol der russischen imperialen Macht, die von Persönlichkeiten wie Peter dem Großen und Iwan dem Schrecklichen verkörpert wurde.
So wurde die Idee der Verschmelzung von Stalinismus und orthodoxem Monarchismus, wie sie in den Werken Prochanows und seiner gleichgesinnten Kollegen zum Ausdruck kam, Teil einer breiteren Tendenz zum Umdenken in Bezug auf die sowjetische Vergangenheit. In diesem Zusammenhang traten die kommunistische Ideologie und die Diktatur des Proletariats in den Hintergrund und machten Platz für das idealisierte Konzept eines „starken, aber gerechten“ Herrschers und Verteidigers traditioneller Werte und nationaler Souveränität.
Stalinismus der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF)
Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) wurde in den 1990er Jahren zur führenden Oppositionskraft. Sie lehnte die Reformen des Kremls ab und vertrat die Interessen eines bedeutenden Teils der postsowjetischen Arbeiterklasse, die unter den neoliberalen wirtschaftlichen Umwälzungen gelitten hatte. Die Partei war jedoch eher eine gemäßigte linkspatriotische Kraft als eine radikale kommunistische Bewegung.
In dieser Zeit war das Wirtschaftsprogramm[9] der KPRF sozialdemokratisch geprägt. Es konzentrierte sich nicht auf revolutionäre Veränderungen, sondern auf die Wiederherstellung von Elementen der staatlichen Regulierung und sozialen Sicherheit, die im Zuge der Marktreformen abgebaut worden waren. Der Parteivorsitzende Gennadi Sjuganow betonte die Notwendigkeit einer starken Staatswirtschaft, der Förderung der heimischen Produktion und der sozialen Gerechtigkeit. Das bestehende System der Marktbeziehungen stellte er jedoch nicht in Frage.
Ideologisch war die KPRF eine eklektische Mischung aus marxistisch-leninistischen, nationalpatriotischen und konservativen Elementen. In ihrer Rhetorik berief sich die Partei aktiv auf den Stalinismus als Symbol eines „starken Staates“, was bei den Nostalgikern der Sowjetzeit Anklang fand. Gleichzeitig trug die nationalkonservative Rhetorik, die Appelle an „traditionelle Werte“ und eine russische nationale Wiederbelebung beinhaltete, dazu bei, kommunistische Wähler mit breiteren Bevölkerungsschichten, darunter auch Anhänger des russischen Patriotismus, zu vereinen. Infolgedessen war die KPRF der 1990er Jahre weniger eine radikale kommunistische Partei als vielmehr der linke Flügel der nationalpatriotischen Opposition, die innerhalb des legalen politischen Rahmens agierte und keinen systemischen Bruch mit der bestehenden Ordnung anstrebte.
In den 2000er Jahren verlor die KPRF nach einer Reihe von Umwälzungen allmählich[10] ihre aktive Oppositionsrolle und integrierte sich in das politische System Wladimir Putins. Angesichts der zunehmenden Zentralisierung der Macht und der Unterdrückung der systemkritischen Opposition gab die Partei ihre radikale Kritik am aktuellen Regime auf und verwandelte sich praktisch in eine loyale parlamentarische Opposition. Sie beschränkte ihre Aktivitäten auf rhetorische Erklärungen und die Teilnahme an Wahlen, ohne eine echte Gefahr für die Regierung darzustellen.
Einer der wichtigsten Tätigkeitsbereiche der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) in dieser Zeit war die Politik der historischen Erinnerung[11]. Die Partei konzentrierte sich auf die Revision der postsowjetischen Darstellung der sowjetischen Vergangenheit, insbesondere durch die Rehabilitierung der Stalin-Ära[12]. In ihrer Rhetorik propagierte sie energisch die Idee einer Neubewertung der sowjetischen Geschichte, kritisierte die 1990er Jahre als „Zeit der Unruhen“ und betonte die Kontinuität des modernen Russlands mit dem Sowjetstaat. Dies spiegelte sich in der Methodik einer Errichtung von Denkmälern für Josef Stalin, der Unterstützung offizieller Veranstaltungen zu sowjetischen historischen Daten und der Verbreitung der These wider, dass Stalin eine positive Rolle[13] in der Entwicklung des Landes gespielt habe.
Die Konzentration auf die Erinnerungspolitik ermöglichte es der KPRF, die Unterstützung von Wählern aus Teilen der Bevölkerung zu erhalten, die der UdSSR nostalgisch gegenüberstanden. Gleichzeitig trug sie jedoch zur Transformation der Partei zu einer konservativen Kraft[14] bei, die sich zunehmend dem Traditionalismus und dem staatlichen Paternalismus zuwandte.
Zwischen 2018 und 2020 wurden interne Spaltungen innerhalb der KPRF deutlich, als sich innerhalb der Partei ein oppositioneller Flügel[15] zu bilden begann, der sich größtenteils aus jungen Aktivisten und regionalen Politikern zusammensetzte. Diese Vertreter der neuen Generation lehnten die traditionelle Synthese aus Stalinismus und nationalem Konservatismus der Partei ab. Stattdessen plädierten sie für eine Aktualisierung der ideologischen Plattform im Sinne einer modernen Sozialdemokratie. In ihrer Rhetorik forderten sie eine Demokratisierung des politischen Systems, eine stärkere Sozialpolitik und eine Abkehr vom konservativen Kurs, der die KPRF in den letzten Jahrzehnten geprägt hatte.
Der wachsende Einfluss dieses Flügels hätte zu einer teilweisen Transformation der KPRF im Russland nach Putin führen können, um sie näher an die europäischen Linksparteien heranzuführen. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 geriet die Opposition innerhalb der Partei jedoch unter erheblichen Druck. Einige ihrer Mitglieder wurden Opfer von Parteisäuberungen. Andere entschieden sich dafür, sich aus der öffentlichen Politik zurückzuziehen und keine öffentlichen Äußerungen mehr zu machen. Infolgedessen festigte die Partei endgültig ihren Status als systemkonforme, den Behörden loyale und in das politische System des Staates integrierte Opposition. Die Möglichkeiten für ihre zukünftige Entwicklung zu einer progressiveren linken Kraft sind nun begrenzt.
Der Kreml und der Stalinismus
Die Haltung des Kremls gegenüber dem Stalinismus hat sich in den letzten Jahrzehnten im Zuge der Entwicklung der staatlichen Ideologie und politischen Strategie erheblich gewandelt. In den 1990er Jahren war der offizielle Diskurs überwiegend kritisch gegenüber der Sowjetzeit, insbesondere gegenüber dem Stalinismus, der als Abweichung vom vermeintlichen europäischen Entwicklungsweg Russlands angesehen wurde. In dieser Zeit passten sich die Ansichten über die Stalin-Ära dem liberal-westlichen Kurs der Regierung an. Der Stalinismus wurde wegen seiner Repressionen, seiner totalitären Herrschaft und seiner Menschenrechtsverletzungen scharf kritisiert.
Diese Haltung begann sich zu wandeln[16], nachdem Wladimir Putin Anfang der 2000er Jahre an die Macht kam. Die staatliche Rhetorik rückte allmählich von der eindeutigen Verurteilung des Stalinismus ab, und bestimmte Elemente davon wurden in die neue offizielle patriotische Erzählung aufgenommen. Ein symbolisches Zeichen war die Wiedereinführung der Hymne der UdSSR (mit neuem Text). Dies signalisierte den Wunsch der Regierung nach Kontinuität mit der sowjetischen Vergangenheit. Im Mittelpunkt dieser historischen Erzählung stand jedoch die Nutzung der Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg als Instrument zur Konsolidierung der Gesellschaft und zur Legitimierung der Macht.
Dennoch gab es in den ersten Jahren der Herrschaft Putins keine offizielle Rehabilitierung Stalins. Stalins Herrschaft wurde weiterhin kritisch gesehen, insbesondere im Hinblick auf politische Repressionen[17]. Mit dem Zunehmen autoritärer Tendenzen innerhalb des russischen politischen Systems nahm der Kreml jedoch zunehmend eine konservative Ideologie an, die an die sogenannte „rot-braune“ Bewegung der 1990er Jahre erinnerte. Diese verband stalinistische Motive der staatlichen Größe und zentralisierten Macht mit orthodoxen monarchistischen Ideen, die die historische Einzigartigkeit und Heiligkeit der russischen Staatlichkeit betonten.
Seit 2014 hat sich in Russland eine nationalkonservative Ideologie voll entfaltet. Darin existieren die unterschiedlichsten, ja gegensetzlichen historischen Epochen innerhalb eines gemeinsamen Rahmens von Kontinuität und tausendjähriger Staatlichkeit. In dieser Erzählung werden sowohl die zaristisch-imperiale als auch die sowjetische Periode als unterschiedliche Erscheinungsformen eines einheitlichen russischen Staates interpretiert, wobei die Kontinuität der Macht und der Tradition als die bestimmenden Faktoren der historischen Entwicklung angesehen werden. In diesem Rahmen wird die Russische Revolution von 1917 nicht als sozialer Umbruch gesehen, der zu einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaftsordnung führte. Vielmehr war sie eine destruktive Episode, die den Staat im Interesse äußerer Kräfte schwächte. Aus dieser Sicht werden die Bolschewiki entweder als utopische Fanatiker[18] dargestellt, die in ihrem Streben nach einer Weltrevolution das Land destabilisierten, oder als Agenten ausländischer Einflüsse, die zum Zerfall[19] des historischen Russlands beitrugen.
Die stalinistische Periode ist weitgehend in diese konservative Geschichtsdarstellung integriert. Sie steht für eine Zeit der verstärkten staatlichen Zentralisierung, der Rückkehr zu traditionellen sozialen Normen und der Unterdrückung revolutionärer Experimente. Nach der Niederschlagung der linken (trotzkistischen) und rechten (bucharinistischen) Opposition festigte Stalin schließlich seine Macht, indem er ein totalitäres Regierungssystem errichtete, das in einigen Punkten an das autokratische Modell erinnerte.
In dieser Zeit wurden viele der radikalen Veränderungen, die in den ersten Jahren der Sowjetmacht eingeleitet worden waren, rückgängig gemacht. In der Sozialpolitik wurden fortschrittliche Reformen zurückgenommen: Die Politik der sexuellen Befreiung wurde umgekehrt, Abtreibungen wurden verboten (1936) und strafrechtliche Sanktionen für Homosexualität wurden wieder eingeführt (1934). Auch die nationale Politik erfuhr einen bedeutenden Wandel: Während in den 1920er Jahren die Politik der „korenizatsiia“ (Einwurzelung) die nationalen Kulturen und Humanressourcen förderte, wurde diese in den 1930er Jahren zurückgenommen, begleitet von Repressionen gegen nationale Eliten.
Ähnliche Veränderungen gab es auch im Bereich der Kunst. Während die 1920er Jahre von avantgardistischer Kunst, Futurismus und Konstruktivismus geprägt waren, kam es in den 1930er Jahren zu einer Hinwendung zur künstlerischen Vereinheitlichung. Der Sozialistische Realismus wurde zum offiziellen Stil erklärt und alle alternativen künstlerischen Bewegungen unterdrückt.
Die offizielle Geschichtsschreibung von heute stellt Stalin nun als Staatsmann dar, der revolutionären Utopismus ablehnte. Er modernisierte das Land, was zum Sieg im Großen Vaterländischen Krieg führte. Dieses Bild ist Teil einer breiteren konservativen Wende in der Wahrnehmung der Stalin-Ära in den letzten Jahrzehnten. Stalin wird heute als ein Führer gesehen, der nach den zerstörerischen revolutionären Experimenten und inneren Unruhen der früheren Jahre die Stabilität wiederherstellte und das Land durch die Modernisierung der Industrie und des Militärs, die später eine Schlüsselrolle beim Sieg über Nazi-Deutschland spielten, auf die Weltbühne brachte.
Einige regierungsnahe Denker, wie der bereits erwähnte Alexander Prochanow[20], argumentieren, dass Stalin nicht nur die Sowjetunion modernisiert, sondern auch das Werk der russischen Zaren fortgesetzt habe. Ihrer Ansicht nach stellten Stalins Politik, insbesondere die Maßnahmen zur Stärkung der zentralisierten Macht und zum Aufbau eines robusten Staates, eine Wiederherstellung der Größe des Russischen Reiches dar. Seine Handlungen, so sagen sie, setzten die Traditionen der autokratischen Herrschaft fort. Diesen Autoren zufolge hat Stalin nicht nur die Einheit des Landes wiederhergestellt, sondern auch gefestigt, es gegen äußere Bedrohungen verteidigt und seine politische und kulturelle Identität gestärkt. Diese Errungenschaften stehen im Einklang mit den Zielen, die russische Monarchen im Laufe der Geschichte verfolgt hatten.
Die ideologische Rhetorik des heutigen Russlands dreht sich nun um Wladimir Putin als Nachfolger sowohl der russischen Zaren als auch Stalins im Kampf gegen den westlichen Einfluss. In dieser Erzählung ist Putin ein Verteidiger der nationalen Souveränität und ein Führer, der die historische Tradition eines starken, zentralisierten Staates fortsetzt, der in der Lage ist, äußeren Bedrohungen standzuhalten. Diese „Re-Stalinisierung“ ist seit Beginn der „militärischen Sonderoperation“ und der verschärften Rhetorik, die die äußere Bedrohung als eine durch „ukrainische Nazis“ darstellt, besonders ausgeprägt.
Reflexion der postsowjetischen demokratischen Linken über den Stalinismus
Der stalinistische Totalitarismus hinterließ in der gesamten kommunistischen Bewegung ein blutiges Erbe und beschädigte die sozialistischen Ideale auf internationaler Ebene erheblich. Im Laufe des 20. Jahrhunderts kritisierten verschiedene Fraktionen innerhalb der linken Bewegungen den Stalinismus als bürokratische Entartung der Revolution, als Ersatz der Diktatur des Proletariats durch die Diktatur der Parteinomenklatur und als Verrat am demokratischen Sozialismus. Diese antistalinistischen Bewegungen entstanden jedoch vor allem in westlichen Ländern, wo die Bedingungen für ideologische und politische Debatten gegeben waren. In der Sowjetunion selbst wurden nach der Niederlage der Linken Opposition in den 1920er und 1930er Jahren alternative marxistische und sozialistische Strömungen eliminiert und ihre Anhänger entweder unterdrückt oder ins Exil gezwungen. In den folgenden Jahren existierte antistalinistische Kritik nur in Form kleiner dissidenter Gruppen, die kaum Einfluss auf das gesellschaftspolitische Leben des Landes hatten.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden im postsowjetischen Raum kleine linke Organisationen, die sich in erster Linie an der antistalinistischen Tradition orientierten und einen starken Schwerpunkt auf den Trotzkismus legten. Diese Gruppen versuchten, die sowjetische Erfahrung durch die Brille der von Leo Trotzki und seinen Anhängern formulierten Kritik am Stalinismus neu zu betrachten. Trotzkistische Organisationen betrachteten den Stalinismus als eine bürokratische Konterrevolution, die die demokratischen Elemente des frühen Sowjetstaates demontierte, die Macht der Sowjets durch einen totalitären Staatsapparat ersetzte und den Sozialismus auf ein autoritäres Verwaltungsmodell reduzierte.
Unter den antistalinistischen Linken im postsowjetischen Russland gab es auch einige, die sich nicht mit der trotzkistischen Tradition identifizierten, aber dennoch den Stalinismus aus marxistischer Perspektive kritisierten. Eine solche Persönlichkeit war der marxistische Wissenschaftler und Ökonom Alexander Busgalin[21], der die linke Zeitschrift Alternativen gründete und während der Perestroika aktiv an der informellen linken Bewegung beteiligt war.
„Stalin wurde zum Vertreter patriarchalisch-konservativer Kräfte, die zunehmend patriarchalisch-gewalttätige (vorbürgerliche) Methoden zur Erhaltung des politischen Systems durchsetzten. Das Ergebnis war die Vorherrschaft des Staates und des Gewaltapparats, ein Merkmal, das spätfeudalen und asiatischen Gesellschaften gemeinsam ist. Hinzu kamen halbfeudale Zustände wie der Passentzug für Kolchosarbeiter und die Meldepflicht sowie Verhältnisse der Halbsklaverei wie der weit verbreitete Einsatz von Zwangsarbeitern. All dies waren Formen der Wirtschaftsorganisation mit bedeutenden Elementen des Patriarchats und des Großmachtchauvinismus in der Ideologie. Die Energie der sozialistischen Bewegung sowohl innerhalb der UdSSR als auch weltweit begrenzte jedoch gleichzeitig den Rückfall des Stalinismus in vorbürgerliche Institutionen und schuf die Grundlage für den Erhalt und die Entwicklung des Landes. Ohne diesen sozialistischen Impuls wäre die UdSSR im 20. Jahrhundert als vollständig nicht-sozialistisches System zusammengebrochen.“
Einer der prominentesten zeitgenössischen russischen linken Denker, der den Stalinismus kritisiert, ist der Soziologe und Publizist Boris Kagarlitzki[22], Gründer der Online-Zeitschrift «Rabkor». Er befindet sich derzeit wegen politischer Vorwürfe im Gefängnis. Kagarlitski war bereits während der Sowjetzeit ein linker Dissident und überzeugter Antistalinist, der den Stalinismus als Verfälschung des sozialistischen Projekts und als Ersetzung der Selbstverwaltung der Arbeiter durch eine totalitäre Bürokratie betrachtete. In seinen Werken analysierte er die Natur der sowjetischen Nomenklatura und zeigte, wie der Stalinismus zur Bildung einer neuen Klassenstruktur führte, in der die Partei-Staats-Elite die Macht an sich riss und die demokratischen Elemente unterdrückte, die integraler Bestandteil des frühen sowjetischen Projekts waren.
«Stalins Thermidor war, wie der französische Thermidor, im Wesentlichen eine Konterrevolution, die aus der Revolution selbst hervorging und weitgehend deren Fortsetzung und Höhepunkt darstellt. Aus diesem Grund sind sowohl Versuche, den Bolschewismus vom Stalinismus zu trennen, als auch Bemühungen, den Bolschewismus auf den Vorläufer des Stalinismus zu reduzieren, gleichermaßen fehlgeleitet.»
Im Jahr 2011 entstand aus dem Zusammenschluss zweier trotzkistischer Organisationen – der Sozialistischen Bewegung Vorwärts und Sozialistischer Widerstand die Russische Sozialistische Bewegung (RSD). Diese Organisation wurde zu einer der wenigen unabhängigen linken politischen Kräfte in Russland, die sich den Prinzipien des demokratischen Sozialismus verschrieben hatten und vor allem Studenten, junge Aktivisten und Intellektuelle anzog. Die RSD kritisierte sowohl den neoliberalen Kapitalismus als auch autoritäre Tendenzen innerhalb des russischen Staates, verteidigte die Rechte der Arbeiter und beteiligte sich an Protestkampagnen. Mit der zunehmenden Repression gegen die Opposition geriet die Bewegung jedoch unter wachsenden Druck seitens der Behörden. Im Jahr 2024, nachdem sie als „ausländischer Agent“ eingestuft worden war, beschloss die Organisation, sich aufzulösen, was einen schweren Schlag für die unabhängige linke Politik in Russland bedeutete. Dies war eines der Anzeichen für den Zusammenbruch der unabhängigen linken Politik in Russland.
In einer Post-Putin-Ära könnten antistalinistische Linke eine entscheidende Rolle bei der Neugestaltung der Geschichtspolitik spielen, indem sie eine alternative Interpretation der sowjetischen Vergangenheit anbieten. Ihre Perspektive könnte sowohl die liberale Erzählung, die die Oktoberrevolution und die UdSSR lediglich als Abweichungen vom europäischen Entwicklungsweg betrachtet, als auch den imperialen Diskurs, der die Sowjetunion als bloße Manifestation der jahrtausendealten Staatlichkeit Russlands sieht, in Frage stellen. Durch die Entwicklung eines historischen Rahmens, der auf der Kritik des Autoritarismus und der Bewahrung des revolutionären Erbes basiert, könnten antistalinistische Linke zur Bildung einer neuen politischen Identität beitragen, die frei ist von der Wiederherstellung sowohl liberaler als auch national-konservativer Ansätze.
Anmerkungen
[1] Adrian Karatnycky: Russia Is Back to the Stalinist Future. With a Soviet-style election, Vladimir Putin’s Russia has come future. Foreign Policy, March 24, 2024; https://foreignpolicy.com/2024/03/24/russia-putin-stalin-soviet-election-war-repression-political-prisoners/
[2] Андрей Злобин: «Излишняя демонизация»: Путин рассказал Стоуну о своем отношении к Сталину, FORBES.ru, 18. Juni 2017; https://www.forbes.ru/biznes/346253-izlishnyaya-demonizaciya-putin-rasskazal-stounu-o-svoem-otnoshenii-k-stalinu
[3] Левада-Центр: Отношение к Сталину, 15.08.2023; https://www.levada.ru/2023/08/15/otnoshenie-k-stalinu/
[4] Сталинский блок — за СССР (Stalinscher Block – nach der UdSSR), Wikipedia russ; https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%A1%D1%82%D0%B0%D0%BB%D0%B8%D0%BD%D1%81%D0%BA%D0%B8%D0%B9_%D0%B1%D0%BB%D0%BE%D0%BA_%E2%80%94_%D0%B7%D0%B0_%D0%A1%D0%A1%D0%A1%D0%A0
[5] Anmerkung der Redaktion: Die von Stalin initiierte Kampagne gegen den „Kosmopolitismus“ richtete sich nicht nur allgemein gegen alle westlichen Einflüsse und führte zu Terrorkampagnen gegen sowjetische Armeeangehörige, die „westlichen Einflüssen“ außerhalb der Sowjetunion ausgesetzt waren oder gegen Kommunisten, die während des Nazi-Faschismus in der westlichen Emigration waren. Die Kampagnen richtete sich besonders gegen Juden und Kommunisten jüdischer Abstammung. Die führenden Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees in der Sowjetunion wurden ermordet, die jüdischen Kulturdenkmale in der Sowjetunion, die den Völkermord der Nazi-Okkupanten überlebt hatten, wurden zerstört und die Kommunistischen und antifaschistischen Parteien des Ostblocks mit einer antisemitischen Terrorkampagne überzogen.
[6] National Bolshevism, Wikipedia engl.; https://en.wikipedia.org/wiki/National_Bolshevism
[7] Alexander Prochanov, Wikipedia engl; https://en.wikipedia.org/wiki/Alexander_Prokhanov
[8] Anmerkung der Redaktion: Dem russisch-orthodoxen Messianismus liegt die Idee vom „Dritten Rom“ zugrunde, in der das orthodoxe Russland nach dem Byzantinischen Reich die Aufgabe zur Einigung der christlichen Welt im Sinne der Orthodoxie hat.
[9] Программа Коммунистической партии Российской Федерации Дополнения и изменения приняты IV съездом КПРФ 20 апреля 1997 года) (Programm der KPRF von 1997); http://www.panorama.ru/works/vybory/party/p-kprf.html
[10] Азамат Исмаилов: КПРФ: есть ли будущее у партии прошлого?; https://www.posle.media/article/kprf-est-li-budushchee-u-partii-proshlogo
[11] КПРФ: В Москве прошла памятная патриотическая акция, посвященная 70-летию со дня смерти И.В. Сталина; https://kprf.ru/party-live/cknews/217126.html
[12] КПРФ: Г.А. Зюганов: Ленин, Сталин и Победа – абсолютно неразделимы!; https://mkkprf.ru/19760-ga-zyuganov-lenin-stalin-i-pobeda-absolyutno-nerazdelimy.html
[13] КПРФ: Г.А. Зюганов: «Я считаю, что Сталин был главным строителем Советской державы»; https://kprf.ru/party_live/55447.html
[14] Vladimir Nikitin (politician), From Wikipedia, the free encyclopedia_en; https://en.wikipedia.org/wiki/Vladimir_Nikitin_(politician)
[15] Маркус Акерет: Российские коммунисты внезапно стали надеждой оппозиции, InoPressa: Neue Zürcher Zeitung, 22 сентября 2021 г.; https://www.inopressa.ru/pwa/article/22Sep2021/nzz/kprf.html
[16] Модернизация не может служить оправданием преступлений Сталина, Ведомости 02 ноября 2009; prestuplenij-stalina
[17] Russia’s Putin condemns Soviet-era political repressions, AP; https://apnews.com/general-news-e708f321bd83433395d77755fa6651db [Link funktioniert]
[18] Igor Torbakov: Putin’s Ambiguities over the 1917 Russian Revolutions, ulrikes magasinet, 2017 Mars; https://www.ui.se/utrikesmagasinet/analyser/2017/mars/putins-ambiguities-over-the-1917-russian-revolutions/
[19] Vladimir Putin accuses Lenin of placing a ‚time bomb‘ under Russia. Russian president blames revolutionary’s federalism for break up of Soviet Union and creating ethnic tension in region, The Guardian, AP, 25. Jan 2016; https://www.theguardian.com/world/2016/jan/25/vladmir-putin-accuses-lenin-of-placing-a-time-bomb-under-russia
[20] Александр Щербаков 5: Писатель Александр Проханов о Сталине, Проза.ру; https://proza.ru/2023/07/14/415
[21] Александр Бузгалин: Троцкий и Сталин: два лика Революции, ИНТЕЛРОС!; http://www.intelros.ru/intelros/reiting/reyting_09/material_sofiy/5177-trockij-i-stalin-dva-lika-revolyucii.html
[22] Boris Kagarlitzki, Wikipedia.de; https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Juljewitsch_Kagarlizki
Quelle: https://www.posle.media/article/stalinizm-i-kremlyovskaya-ideologiya
Der Artikel erschien auf der linksoppositionellen russischen Plattform Posle.Media am 5. März 2025 auf Russisch und Englisch. Wir danken der Redaktion von Posle.Media für die Möglichkeit, ihn in deutscher Fassung auf unserem Blog zu veröffentlichen.
Übersetzung: Redaktion
Foto: Franklin D. Roosevelt Library Public Domain Photographs – https://www.flickr.com/photos/fdrlibrary/5692883651/in/photolist-9F4vYp-22ae5pb-pJ7JqW-K3WmE1-aLPLs-6Vabay-NqPyuh-HWjDm-c6vbJb-6nB5GV-2nz3Z3L-2ng3EXs-jPHsby-2mjXbtV-2mk35mZ-2mk1R6S-N3mAhq-badiTV-Tbz48z-8FEJKL-cW5Ai3-6DbnWC-2mk2hny-8r4J3U-rf4YtS-2mk2dbs-Pc4H6w-c7JERw-2mjTwCr-2mk2fmV-2mk33V2-2mjYipt-2mk27yL-c6v3hU-puHocy-2mjXmTY-2mjYHHd-2mk23wn-2mjTgEF-2mjTmiZ-2mk3cUj-2mk23vR-2mjYxkK-2mjX2vj-2mjTfnq-2mk3746-2mjYpQV-2mk33Uv-9qqUDz-2mawZaz