von Renate Hürtgen, 27. Februar 2024
Eigentlich wollte ich einen Beitrag über die gewerkschaftliche Linke nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine schreiben, einen Rückblick auf unsere Auseinandersetzungen geben und die Positionen noch einmal Revue passieren lassen. Doch der objektive, analytische Blick auf die unterschiedlichen Positionen wollte mir diesmal einfach nicht gelingen. Ich wurde, je mehr ich mich mit den Stellungnahmen eines Teils der gewerkschaftlichen Linken beschäftigte, immer wütender; ihre Haltung zum Krieg in der Ukraine macht mich einfach fassungslos. Ich werde versuchen, dies den Leser:innen zu erklären.
Nichts dazu gelernt. Deutsche Linke in einer Logik befangen, die schon 1989 falsch war
Der Überfall Russlands auf die Ukraine liegt zwei Jahre zurück. Es war ein Ereignis, von dem wohl jede:r weiß, wo er oder sie diese Nachricht gehört und welche Gedanken und Gefühle sie ausgelöst hat. Ähnlich dem Tag des Mauerfalls 1989 wurde schlagartig klar, dass dieser 24. Februar 2022 eine historische Zäsur ist und dass ein lokales Ereignis bald seine weltweiten Auswirkungen haben wird.
Bei allen Unterschieden waren beides historische Daten, die anzeigten, dass sich die bis dahin herrschenden globalen Machtverhältnisse geändert hatten. Seit 1989 zerfielen in einem schwindelerregenden Tempo der Sowjetblock und die Sowjetunion; der Westen ging als „die beste aller Welten“ aus diesem Zerfall hervor. In den Ländern, die sich von kolonialer und imperialer Abhängigkeit befreiten, wurde kein sozialistisches Begehren sichtbar. Im Gegenteil: die Bevölkerung in allen ehemals „realsozialistischen“ Ländern und einigen ehemaligen Sowjetrepubliken wollte einen sozialstaatlichen Kapitalismus. Hier eine linke Position zu finden war nicht einfach, zumal gerade eine (west-)deutsche Linke Jahrzehnte lang ihre Haltung unter den Bedingungen des „Kalten Krieges“ gegen den herrschenden Antikommunismus hatte verteidigen müssen. Die nach 1989 geführten kontroversen Diskussionen und „Positionsbestimmungen“ über den diktatorischen Charakter der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten dauern bis heute an. Sie scheinen mit dem „autoritären Kommunismus“, der sich positiv auf diese Gesellschaften bezieht, sogar ein Revival zu erleben.1
Seit dem 24. Februar 2022 befindet sich nicht nur die deutsche Linke wieder in einer schwierigen Situation, die sie zwingt, ihre bisherigen Positionen zu überdenken und gegebenenfalls zu korrigieren. Namentliche jene, die noch wenige Tage vor Kriegsbeginn von Russland als einem friedliebenden Staat gesprochen hatten, sahen sich maßlos getäuscht; einige machten ihren Irrtum auch öffentlich. Die Mehrheit der deutschen Linken ließ keinen Zweifel daran, dass sie Russland für den Aggressor in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg hielt, was in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn noch eine gute Basis für die beginnenden Auseinandersetzungen war. Diese drehten sich zunächst so gut wie ausschließlich um die Ursachen des Krieges und um die alle bewegende Frage: „Warum hat Putin diesen schrecklichen Krieg gegen die Ukraine begonnen?“
Schnell bildeten sich zwei durchaus heterogene linke Lager, die der „Lagerbildung“ nach 1989 nicht unähnlich war. Die einen hatten 1989/91 den schnellen Zerfall des Ostblocks vor allem aus dem Charakter der Sowjetunion und ihrer Rolle als kolonialer und imperialer Macht zu begreifen versucht, aus der Stagnation und aus Widersprüchen, die sich innerhalb der diktatorischen Systeme derart zugespitzt hatten, dass „die Straße“ deren Herrschaft wie ein Kartenhaus zusammenfallen ließ. Für die anderen war 1990 der Beweis für den aggressiven Charakter des Westens, der den Gegner in der „Systemkonkurrenz“ niedergerungen und damit der Sowjetunion und dem sogenannten sozialistischen Lager jede Entwicklungschance genommen hatte. Mit ähnlichen Argumenten verteidigen die Kontrahent:innen seit 2022 ihre jeweilige Position. Nach dem Verständnis der einen ist der aggressive imperiale Charakter Russlands, der sich im Innern als hochgradig autokratisch, nationalistisch und reaktionär zeigt, der maßgebliche Hintergrund für Putins erklärtes Ziel, die Ukraine als eigenständigen Staat zu zerschlagen und zum Bestandteil eines großrussischen Reiches zu machen. Die Vertreter:innen des anderen Lagers sehen die entscheidenden Ursachen für Putins Angriffskrieg in der Politik des Westens, namentlich in der Nato-Osterweiterung und in der geringen Wertschätzung, die der Westen Russland entgegenbringe. Darauf habe Putin folgerichtig mit seinem Krieg reagiert.
Ich finde es bemerkenswert, dass sich nach über dreißig Jahren dieselben Positionen, die die deutsche Linke schon zu Zeiten des Kalten Krieges spaltete, wieder gegenüberstehen. Wie schon 1989/91 greift ein Teil von ihnen auf das ihnen vertraute Muster der USA als besonders gefährlichem imperialen Aggressor zurück und relativiert in diesem Zuge die Rolle anderer Imperien, zum Beispiel die der Sowjetunion und aktuell die Russlands. Am eindrucksvollsten stellt sich für mich diese auch personelle Kontinuität im Auftreten der Friedensbewegung dar, die sich traditionell zu den Ostermärschen organisiert.2Inhaltliche und wohl auch personelle Überschneidungen gibt es zu Friedensgruppen in den Gewerkschaften, die ebenfalls den Gedanken nahe legen, dass dieser Krieg ein Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland ist. Und da klar sei, auf welcher Seite Linke in diesem Ost-West-Konflikt zu stehen haben, verbietet sich der Gedanke vom Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen von selbst.3
Ich beobachte, dass auf die Situation nach dem russischen Angriffskrieg in einigen linken Gruppen und Parteien genauso reflexartig reagiert wird wie vor 1989, zu einer Zeit, als man sich im Kampf gegen den Antikommunismus befand und die Welt nur aus der Sicht der sogenannten Systemauseinandersetzung begreifen wollte. Genau wie damals verbaut diese Haltung auch heute, über eine historische emanzipatorische Alternative jenseits von „Realsozialismus“ und Kapitalismus und jenseits eines geopolitischen Verständnisses vom Kampf des Westens gegen den Osten nachzudenken. Mit dem Krieg in der Ukraine lebt jenes eigentlich schon erledigt geglaubte Denkmuster in Teilen der Linken wieder auf und, wie es scheint, nicht nur unter den stalinistischen Hardliner:innen. Mit Fassungslosigkeit stehe ich diesem Comeback gegenüber.
Hat ein Teil der gewerkschaftlichen Linken seinen Kompass verloren?
Inzwischen steht die zu Beginn des Krieges unter der gesellschaftlichen Linken und in linken Parteien umstrittene Frage nach den Gründen für Russlands Angriffskrieg nicht mehr im Zentrum der Auseinandersetzungen. Als klar wurde, dass der Krieg in der Ukraine länger dauern wird als gedacht, ging die Angst vor einem Gegenschlag Russlands, womöglich mit Atomwaffen, um. Die Diskussionen verlagerten sich hin zu der Frage danach, wie sinnvoll die Verteidigung der Ukraine gegen einen derart übermächtigen Feind überhaupt sei und ob nicht ein sofortiger Waffenstillstand, einschließlich der Anerkennung ukrainischer Gebietsverluste, der einzig richtige, Frieden bringende Weg wäre. Die Gegner:innen eines solchen Vorschlags argumentieren, dass ein solcher „Diktatfrieden“ keinen Frieden bringen würde, nicht für die Ukraine, nicht für andere ehemalige Sowjetrepubliken und Ostblockstaaten.
Die Meinungsfindung ist nicht gerade einfacher geworden. Die Entscheidungen pro und contra Verteidigungsrecht der Ukraine auch mit Waffen haben sich angesichts des Beschlusses der deutschen Regierung, ein 100 Milliarden Euro-Sonderprogramm für die Bundeswehr aufzulegen, noch einmal verkompliziert. Doch nicht die Tatsache, dass wir damit vor unglaublich schwierigen Selbstverständigungen stehen, macht das derzeitige Dilemma der Linken aus, sondern die Unfähigkeit und der Unwille, die Gegensätze argumentativ auszutragen und vor allem die Konsequenzen, die sich aus den jeweiligen Positionen ergeben, offen zu benennen. Stattdessen wird zu oft geschwiegen oder sich auf pazifistische Positionen zurückgezogen, die einen scheinbar nicht mehr zwingen, sich für eine Seite entscheiden zu müssen.4Seit wann aber zeichnen sich Linke dadurch aus, dass sie in globalen Konflikten keine Position beziehen? Oder schweigen und hoffen, auch dieser Krieg geht irgendwann einmal vorbei?
Es macht mich sehr betroffen, dass auch einige meiner Freund:innen aus dem gewerkschaftlichen und betrieblichen Spektrum, die bisher immer an der Seite derer standen, die einen gerechten Kampf führen, sich in diesem Konflikt zu Pazifist:innen erklären. Sie fordern „Frieden“, sofort und bedingungslos, und kalkulieren damit offensichtlich alle Folgen ein, die ein solcher Frieden, nicht nur für die Ukrainer:innen, haben kann. Sie warnen dagegen vor den schlimmeren Folgen, die die Fortsetzung dieses Krieges für uns alle hätte. Ob sie diese ihre Haltung auch in Anschlag bringen würden, wenn sich die USA grenznahe Gebiete in Mexiko oder einen Teil Kubas aneigneten ? Tatsächlich wird es nicht leichter, in den globalen und imperialen Auseinandersetzungen eine eigene Position zu finden. Sich jedoch jedes Mal auf die Wunschposition zurückzuziehen, alle mögen die Waffen schweigen lassen, kommt einer politischen Bankrott-Erklärung gleich. Haben wir keine gemeinsamen Grundsätze mehr für die Bewertung von solchen globalen Konflikten? Wo ist der Kompass, der als gemeinsame Richtschnur unseres Handelns dienen kann?
Linke Gewerkschafter:innen im politischen Abseits
Wer dagegen das Recht der Ukrainer:innen auf militärische Verteidigung in diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg anerkennt, der hat sich für eine Seite entschieden und steht schnell vor der nächsten Frage: Wie hältst du es mit der militärischen Unterstützung der Ukraine? Wie hältst du es mit Waffenlieferungen aus Deutschland? Freund:innen aus dem betrieblichen und gewerkschaftlichen Spektrum haben mir gesagt, dass es sie „zerreißt“, einer solchen, aus ihrer Sicht, zwingend notwendigen Unterstützung zustimmen zu müssen. Im Kampf gegen Aufrüstung und „Kriegstüchtigkeit“ würden sie jedoch weiterhin auf die Straße gehen, denn beides ließe sich durchaus trennen. Man solle, wie auch bei anderen Fragen, aufpassen, keine falschen Ursachen für ein gesellschaftliches Problem zu benennen, z.B. die Geflüchteten nicht für den schlechten Zustand der Schulen verantwortlich machen und die Sanktionen gegen Russland nicht für die Inflation. Ebenso falsch sei es, den Krieg in der Ukraine in einem Atemzug verantwortlich für die Aufrüstung der Bundesrepublik zu machen, so, als wäre dieser Trend nicht schon seit Jahren zu verzeichnen und – mit einigem Druck von Seiten der USA – nun zum Anlass genommen worden, das Budget gewaltig aufzustocken.
Das sieht ein anderer Teil der gewerkschaftlichen Linken ganz anders. Beispielhaft will ich hier eine Petition zitieren, die auf dem ver.di-Bundeskongress im September 2023 eingebracht worden war. Sie sollte vornehmlich dem Zweck dienen, den Leitantrag des Bundesvorstandes, in dem sowohl Sanktionen gegen Russland als auch Waffenlieferungen an die Ukraine zur Abstimmung standen, in seiner vorliegenden Fassung abzulehnen. „Sagt Nein! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“, ist die Petition überschrieben, die zu diesem Zeitpunkt bereits über zehntausend Gewerkschafter:innen unterzeichnet hatten. Nach einer heftigen pro und contra-Debatte über die im Leitantrag enthaltenen Forderungen nach Sanktionen gegen Russland und für Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen wurde dieser leicht veränderte Leitantrag mit 80 Prozent der Delegiertenstimmen angenommen.5Dieses Ergebnis ist vor allem darum bemerkenswert, weil die Verfasser:innen der Petition und ihre Mitstreiter:innen mit ihrer Forderung, dem Leitantrag keine Stimme zu geben, in der Diskussion auf dem Kongress sehr dominant auftraten.6
In dieser Petition wird kein Wort mehr über den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine verloren, nichts zu dem unermesslichen Leid der ukrainischen Bevölkerung und ihrem Recht auf Verteidigung. Dagegen heißt es süffisant: „Wer meint, es gehe bei den aktuellen Kriegen […] um Selbstverteidigung, […] ist der Kriegspropaganda […] auf den Leim gegangen.“ Die Autor:innen der Petition erklären etwas weiter unten im Text, dass sie sich nicht an die Seite irgendeiner „Kriegspartei“ stellen würden.7 Damit wird der Ukraine nicht nur das Recht auf Verteidigung in diesem russischen Angriffskrieg abgesprochen, es wird sogar behauptet, dass es sich um gar keine Verteidigungssituation handeln würde. Alles nur Kriegspropaganda – wessen, wird nicht gesagt. Das ist starker Tobak! Und ich will nicht glauben, dass alle zehntausend Unterzeichner:innen der Petition dieser Logik tatsächlich folgen wollten. Die Mehrheit der Delegierten auf dem ver.di-Bundeskongress, allen voran die ver.di Jugend, tat es jedenfalls nicht. Die Petitant:innen hatten sich politisch ins Abseits gestellt. Sie haben dem gemeinsamen Anliegen einer gewerkschaftlichen Linken, der Politik der Aufrüstung entgegenzutreten und die soziale Frage ins Zentrum des gewerkschaftlichen Kampfes zu stellen, einen regelrechten Bärendienst erwiesen. In ihren Aufrufen wird der Eindruck erweckt, als würden ein bedingungsloser Frieden und die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland die Lebensverhältnisse der Deutschen schlagartig verbessern.8Was für ein Trugschluss! Wissen die Verfasser:innen solcher Aufrufe es nicht besser? Oder hoffen sie darauf, dass eine Mehrheit der Gewerkschafter:innen ihre Anstrengung fallenlässt, den Charakter dieses Krieges zu begreifen, um sich kritisch-solidarisch an die Seite ihrer ukrainischen Kolleg:innen zu stellen? Ich schäme mich für diesen Populismus eines Teils der gewerkschaftlichen Linken, der die Angst vieler Menschen vor Krieg und sozialem Abstieg nutzt, um eine bedingungslose Unterwerfung der Ukraine unter russische Herrschaft zu fordern.
Unsolidarische Lösungen linker Gewissenskonflikte
Im Dezember 2022 veröffentlichte die SoZ einen Spendenaufruf, der zur humanitären Hilfe für ukrainische Gewerkschafter:innen aufruft. Sie wollten ihre Solidarität bekunden mit den Kolleg:innen in der Ukraine, die, wie es im Aufruf heißt, unter den Folgen des Krieges zu leiden haben und zugleich gegen den Abbau von Arbeitsrechten durch die eigene Regierung kämpfen. Der Kampf gegen die russischen Invasoren, in dem sich in der einen oder anderen Weise alle Ukrainer:innen befinden, wird nicht erwähnt.9Mit diesem Aufruf war all jenen die Möglichkeit gegeben, sich solidarisch zu zeigen, die sich an anderer Stelle für einen sofortige Waffenstillstand und gegen jede militärische Unterstützung der Ukrainer:innen positioniert hatten oder die in diesen Fragen unentschieden sind. Es war sicher auch eine Möglichkeit, den eigenen Gewissenskonflikten aus dem Weg zu gehen.
Anders als die Initiator:innen der zuvor genannten Aufrufe und Petitionen, die, soweit ich weiß, keinerlei Kontakte zu ukrainischen Gewerkschafter:innen aufgenommen hatten, fuhren aus dem Kreis des Spendenaufrufs in der SoZ im Oktober 2023 einige Kolleg:innen in die Ukraine, um sich in Kiew und Krywyj Rih sowohl mit Vertreter:innen unabhängiger Gewerkschaften zu treffen als auch mit solchen aus Gewerkschaften, die dem Dachverband FPU angehören.10Wie sind die ukrainischen Gewerkschafter:innen damit umgegangen, dass ihnen zwar viel Solidarität in ihrem gewerkschaftlichen Kampf gegen Unternehmen und Staat entgegengebracht wurde, die Frage ihres bewaffneten Kampfes jedoch außen vor gelassen werden soll? Erstaunt seien sie gewesen, auch skeptisch, was sie von dieser Begegnung zu halten haben, die die wichtigste Frage für ihr Überleben, die nach einer militärischen Unterstützung im „Zweifrontenkrieg“, aussparen will.11Am Ende seien die Kolleg:innen jedoch froh und dankbar gewesen, dass sie endlich mal wieder gewerkschaftlichen Besuch bekommen hätten.
Auch wenn solche Begegnungen einen gewissen Beigeschmack haben, sind sie wichtig und wertvoll, weil sie die Tür zu einer späteren solidarischen Zusammenarbeit öffnen. Das macht allerdings nur dann Sinn, wenn es tatsächlich eine Perspektive gibt, wenn Gewerkschafter:innen und andere Linke in der Ukraine eine Zukunft haben. Ich weiß nicht, ob sich diejenigen, die eine militärische Unterstützung ablehnen und zum sofortigen Waffenstillstand aufrufen, sich der Bedrohungen bewusst sind, denen ihre Partner:innen in der Ukraine dann ausgesetzt wären. Wie ist es ihnen möglich, über eine Zukunft in gemeinsamer solidarischer Arbeit zu sprechen, ohne zu bedenken, dass mit einem Waffenstillstand die Gefahr einer russischen Eskalation des Krieges eben nicht gebannt ist? Und kalkulieren diese deutschen Gewerkschaftslinken die Tatsache ein, dass in den von Russland okkupierten Gebieten überhaupt keine gewerkschaftliche Zusammenarbeit möglich sein wird, weil es keine freien Gewerkschaften geben wird!?
In einer Nachbetrachtung zu dieser Reise finde ich eine Erklärung für diesen sorglosen Umgang mit der Zukunft der Ukraine. Die wirkliche Bedrohung in diesem Krieg, so heißt es dort, gehe nicht von Russland aus, sondern von der Aufrüstung, die die Nato derzeit forciert; die Bedrohung gehe vom Westen aus, der das Ziel habe, die Gesellschaft zu militarisieren und damit die Bereitschaft „in den Köpfen“ herzustellen, „auch einen Atomkrieg hinzunehmen. Will man den Krieg in der Ukraine so lange am Kochen halten?“, fragt die Autorin rhetorisch und gibt sich selbst die Antwort: „Um eine Dauerbedrohung aus Moskau herbeizuphantasieren, scheint dies erforderlich.“12Der aggressive Imperialismus Russlands ein Popanz der westlichen Propaganda? Ich bin entsetzt und sprachlos.
Da ist er wieder, der Kampf zwischen Ost und West, den ich schon als falsche und irreführende Logik benannt habe, um sich diesen Krieg zu erklären. Wer in dieser Logik befangen ist, hat auch keine Skrupel, den autokratischen, imperialen und faschistoiden Charakter Russlands zu relativieren, einen Faschismus in der Ukraine demgegenüber als weiter fortgeschritten zu bezeichnen.13Wozu braucht es diese Lügen? Offenbar, um die Verteidigungswürdigkeit der Ukraine infrage zu stellen. Es erschreckt mich, wozu Linke angesichts dieses Krieges fähig sind.
Der Krieg in der Ukraine als Präzedenzfall für eine linke Politik
Der imperialistische Krieg Russlands gegen die Ukraine um die Erweiterung seines Einfluss- und Machtgebietes, um die Erringung neuer Größe, gibt uns ein Vorgeschmack auf die kommenden Kriege. Wir werden uns auf weitere Kriege dieser Art inner- und außerhalb Europas vorbereiten und um linke Antworten gemeinsam ringen müssen. Alte Muster der Konstruktion einer „Systemkonfrontation“ auf die veränderten imperialen Machtkonstellationen anzuwenden wird uns dabei nicht weiterhelfen. Sich orientierungslos auf den Wunsch nach einer Welt ohne Kriege zurückzuziehen oder darauf, dass diese Kriege ja keine Klassenkriege seien, die mit einer sozialistischen Perspektive enden würden, weswegen auch keine Solidarität mit den Überfallenen zwingend sei, hieße nur, dass sich diese Linken damit aus der notwendigen Debatte um eine globale Perspektive selber entlassen. Wir werden uns auch nicht der Mühe entziehen können, jeden dieser Kriege stets neu zu analysieren und zu begreifen, denn es gibt keinen „Krieg an sich“.Wenn die großen
und kleinen Imperialisten die nächsten Kriege anzetteln, müssen auch linke Gewerkschafter:innen besser gewappnet sein und einige Anstrengung darauf verwenden, zusammen mit den betroffenen Kolleg:innen in eine solidarische Diskussion einzutreten. Die Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass wir uns auf eine paar politische Leitlinien einigen, die die Basis für eine linke Diskussion darstellen und auf deren Grundlage die Kontroversen ausgetragen werden können.14 Zu solchen Grundsätzen gehörten völkerrechtliche Verbindlichkeiten ebenso wie internationalistische gewerkschaftliche Haltungen. Der britische Gewerkschaftsdachverband Trades Union Congress (TUC) hat im September 2023 einige solcher Basics für gewerkschaftliche Solidarität in seiner Erschließung zum Krieg in der Ukraine formuliert. Gleich im ersten Abschnitt heißt es: „Als Gewerkschafter sind wir von Natur aus antiimperialistisch, und es ist unsere Aufgabe, Imperialismus und Tyrannei bei jeder Gelegenheit zu bekämpfen. Wir erkennen, dass ein Sieg Putins in der Ukraine ein Erfolg für die reaktionäre autoritäre Politik in der ganzen Welt sein wird.“ 15
Auf Basis solcher Grundsätze ließe sich von gewerkschaftlichen und anderen Linken die so dringend notwendige Diskussion über diesen und kommende Kriege führen.
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1. Standortbestimmung. Autoritärer Kommunismus als Ausweg aus der (linken) Krise?“ Veranstaltungsreihe: Goodbye Stalin – Wider den autoritären Kommunismus. Kooperation mit der RLS Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V. https://www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/NOZ1L/standortbestimmung-autoritaerer-kommunismus-als-ausweg-aus-der-linken-krise?cHash=929fa9cac4686b16514a6b4cfcdd9a67
2. Vgl. Meier, Larissa/Daphi, Priska (2022): „Friedensbewegung und Krieg. Warum konnte die Ostermarschbewegung kaum von der öffentlichen Empörung über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine profitieren“? In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 35. Jg., H. 4, 580–595.
3. Vgl. AG Friedenspolitik und Friedenspädagogik in der GEW BERLIN, erscheint in: bbz März/April 2024.
4. Vgl. AG Internationalismus der IL (2023): „Der Krieg, die Linke und wir. Warum das Parteiergreifen für eines der kriegsführenden Lager in der Ukraine ein Irrweg ist“, in: analyse und kritik Nr. 692, S. 24-25.
5. Präzisierungen im Leitantrag betrafen die Ablehnung der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern und, dass Sanktionen die russische Wirtschaft nicht dauerhaft schädigen dürften. Siehe express 10/2023, S.6f.
6. Diese aus meiner Sicht erfreuliche Situation sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutschen Gewerkschaften, anders als britische oder französische, in Sachen Ukrainesolidarität keine aktive Rolle übernommen haben. Vgl. Christian Zeller (2023): „Gewerkschaften: Keine Solidarität mit Ukraine wegen Nato?“ https://emanzipation.org/2023/09/gewerkschaften-keine-solidaritaet-mit-ukraine-wegen-nato/
8. Vgl. den Aufruf “Berliner Gewerkschaftlicher Ratschlag gegen Aufrüstung und Krieg“, der aus dem Kreis der Initiator:innen der Petition wenig später verfasst wurde. https://gewerkschaftliche-linke-berlin.de/berliner-gewerkschaftlicher-ratschlag-gegen-aufruestung-und-krieg/
10. Reiseberichte von Angela Klein, in: SoZ 11. 2023, S. 18-19 und SoZ 12/Dezember 2024, S. 20-21 sowie das Interview „Solidarität üben, ohne Waffen“ mit Hermann Nehls und Enrico Wiesner, in nd – Die Woche, Nr. 280, 2./3. Dezember 2023, S. 26.
11. Angela Klein (2024): „Die Gewerkschaft ist die Avantgarde des Volkes. Eindrücke von einer Reise in die Ukraine“, in: SoZ 12/2024, S. 20.
12. Angela Klein (2024): „Ukraine. Der Krieg. Nachbetrachtungen zu einer Reise“, in SoZ 1/ 2024, S. 19.
13. Klaus Dallmer (2023): Einen deutschen Imperialismus, gibts den?“,in: express 12/2023,S.6.
14. Ich bin nicht die Erste, die diesen Gedanken hat. Vgl. David Ernesto Gracia Doell, Marta Tycher: Für einen pragmatischen Internationalismus. Wie könnte die Linke besser über ihre Position zum Krieg in der Ukraine streiten?, in: ak Nr. 697/Oktober 2023, S.26
15. Siehe: https://emanzipation.org/2023/12/nicht-einmal-ein-hauch-von-solidaritaet-europaeische-linke-zur-ukraine/
Quelle: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 02/2024, 62. Jg., S.14-15.
Grafik-Foto: https://www.kyivpost.com/post/29110